Der Kunde bestimmt das Geschäft

„Wir erschaffen exzellente Kommunikationslösungen für Ihr Leben“ – so lautet die Gigaset-Vision und Klaus Weßing ist seit bald 40 Jahren ein Teil des Unternehmens, seit Dezember 2015 als Vorstand und CEO, davor in mehreren anderen Funktionen. Dabei beschäftigten den Diplom-Ingenieur des Maschinenbaus stets die Suche nach neuen Produkten und Produktlösungen, das Streben nach kundenorientierten Prozessen und die Neugestaltung von Unternehmensstrukturen. Im Ehrenamt widmet er sich zudem – seit Sommer 2007 als Mitgründer und stellvertretender Vorstandsvorsitzender des infpro Institut für Produktionserhaltung e.V.  – den Fragen des nachhaltigen und umweltschonenden Wirtschaftens.  

Herr Weßing, wir sind erstaunt. Uns war gar nicht bewusst, dass Gigaset seit 80 Jahren am Standort Bocholt Kommunikationslösungen produziert.

Weßing: Ja, wir sind ein Traditionsunternehmen. Aber natürlich haben wir in der Zeit Höhen und Tiefen erlebt. Über Fernsehen on demand etwa haben wir vor 35 Jahren schon diskutiert, über Smartphonestrategien und -anwendung auch schon lange bevor Apple das gemacht hat. Wir haben das aber leider nicht weitergetrieben. Das war ein Fehler, wie wir heute klar und deutlich sehen. Und es ist symptomatisch: Unsere Schwäche in Europa im Vergleich zu den Amerikanern ist nicht, dass wir keine guten Ideen hätten, sondern dass wir sie nicht umsetzen. Transformation heißt auch, von der Idee zum Produkt für den Markt von morgen zu kommen. Damit müssen wir uns mehr beschäftigen.      

Wie gelingt das, schneller von der Idee zum Produkt zu kommen und warum sind die Amerikaner da besser als wir?

Weßing: Sie sind konsequenter. Wir müssten in Deutschland unsere Produktideen mal zu Ende bringen und nicht mittendrin aufhören. Das Fraunhofer-Institut hat den MP3-Player entwickelt, aber nicht zur Marktreife in Deutschland geführt. Nur mal ein Beispiel, dass aufzeigt wo wir ansetzen müssen. Das bedeutet aber auch, dass mehr unternehmerisches Risiko gefragt ist.

Liegt das an der Angst zu scheitern, die anderswo nicht so ausgeprägt ist?

Weßing: Meiner Ansicht nach ja. Wir müssen akzeptieren, dass es auch Fehlschläge geben kann und dass wir nicht davon ausgehen können, dass wenn wir alles ganz genau planen, es auch funktioniert. Das ist nicht richtig. So und so viele Prozent der Produktideen werden aufgehen und so und so viele nicht – egal, wie genau wir das Planen. Geschwindigkeit ist hier in gewissen Bereichen und Themen fast schon wichtiger als Qualität – oder um es genauer zu beschreiben: Zu große Detailverliebtheit.

Denken wir vielleicht zu bürokratisch? Wir haben den Eindruck, dass Projektleiter vor 15 Jahren häufiger Entscheidungen einfach nach logischem Denken getroffen haben. Heute muss alles erst auf der nächsthöheren Ebene diskutiert werden und bis die Entscheidung endlich gefallen ist, ist es meistens schon zu spät.

Weßing: Das ist eine Frage der Struktur. Das ist bei Gigaset ganz einfach. Wir haben einen CEO, einen CFO und darunter direkt die Level-1-Ebene, die mit uns entscheidet – nicht noch eine Ebene und noch eine Ebene. Nun sind wir natürlich nur 1.000 Leute und man kann das nicht in jedem Großkonzern mit 500.000 Beschäftigten so umsetzen, aber die Frage ist dennoch: Wie schnell trifft man Entscheidungen und will man sie auch verantworten? Die Amerikaner sind da kaltschnäuziger. Ich bin vor 25 Jahren auf dem Marktplatz von Philadelphia gefragt worden, ob ich am Tag darauf in den USA anfangen will zu arbeiten. „Hier ist der Scheck, trag die Summe ein, die du monatlich haben willst“, haben die gesagt. Bei uns in Deutschland sind alle beschäftigt, aber effizient und wertschöpfend in Sinne der Kunden arbeiten wir nicht immer. Das müssen wir ändern. Wenn wir es nicht tun, haben wir ein Riesenproblem.

Wenn man wie Sie in Deutschland produziert, muss man dann auch schneller und besser, in jedem Fall anders unterwegs sein, um im Wettbewerb bestehen zu können?

Weßing: Sie müssen sich nicht verteidigen, wenn Sie in Deutschland fertigen. Die drei Faktoren Qualität, Verfügbarkeit und Kosten sind dabei zu bewerten.  Diejenigen, die sagen, sie produzieren woanders, weil es dort günstiger ist, schauen sich oft nur den Stundenlohn an und nicht die Costs of goods sold. Entscheidend ist, wie schnell und in welcher Qualität Sie Ihr Produkt zum Endkunden bringen. Der E-Commerce-Kunde will nicht warten, der schaut nach dem günstigsten Preis und wie schnell das Produkt bei ihm ist. Ich glaube, dass es durch die Digitalisierung und die Automatisierung eine Renaissance geben wird und Fertigungen hierher zurückkommen werden. Wir haben 30 bis 50 Industrieroboter im Einsatz und es nimmt immer mehr zu. Wenn wir vollautomatisiert fertigen, wo läge dann noch der Vorteil, in China zu produzieren?     

Die Regulierung, die externen Kosten, Steuern und Abgaben, Strom – spielt das in der Gesamtkalkulation für Sie keine Rolle?

Weßing: Natürlich spielt das eine Rolle. Wir haben momentan Stromkosten von rund 1 Million Euro. Aber auch die Kosten in China werden massiv zunehmen, weil auch die chinesischen Umweltkosten durch die CO2-Reduzierung getragen werden müssen. Das machen Europa und die USA nicht allein. Der Transport von Waren wird dann unattraktiv, auch die Infrastrukturkosten werden sich angleichen.  

Stichwort CO2-Neutralität: Sie haben auf dem Münchner Management Kolloquium berichtet, dass Sie dieses Ziel bei den Verpackungen schon erreicht haben. Wie steht es um Ihre Produktionsstätten?

Weßing: Beim Strom sind wir auf grün eingestellt. Das ist eine klare Entscheidung: Auch wenn es ein bisschen mehr kostet, wollen wir den Weg der Nachhaltigkeit gehen und prüfen bei jeder Investition, wie wir dahingehend noch besser werden können. Bei den Produkten steht die Nachhaltigkeit schon lange im Fokus. Die sind natürlich Schadstofffrei, wir legen Wert auf die Reparatur- und die Recyclingfähigkeit. Wir haben einen Service, der repariert jedes Teil innerhalb von 24 Stunden. Ein Großteil unserer Kunststoffe ist recycelbar, das ist in dem Fall für uns ein Kostenvorteil. Wir haben auswechselbare Akkus, weil Akkus eine Schlüsselkomponente und die Schwachstelle eines jeden Smartphones sind mit ihrer Lebensdauer von zwei Jahren. Auch wenn es um Fridays for Future gerade wegen Corona etwas ruhiger geworden ist, kann man es deutlich feststellen: Das Bewusstsein der Jungen hat sich geändert, das wird sich in der Elektroindustrie niederschlagen. Wir sind da wirklich extrem: Wir wollen CO2-frei sein, wo immer es möglich ist.    

Wenn wir über Wandel sprechen, müssen wir auch über Vertrieb und Logistik sprechen, über Online- und analogen Vertrieb.

Weßing: Stimmt. Ich bin jetzt seit fünf Jahren im aktuellen Amt und in der Zeit hat sich Gewaltiges getan. Der analoge Vertrieb wird zur Kundenbetreuung weiter da sein, aber die E-Commerce-Umsätze sind ohne Ende gewachsen, sie liegen inzwischen schon bei mehr als 40 Prozent.    

Hat das mit der Pandemie zu tun?

Weßing: Nein, das liegt in erster Linie daran, dass das Angebot da ist und die jungen Leute es nutzen. Vor 15 Jahren habe ich auf einer Konferenz in Wiesbaden die These gehört, dass um 2025 rum die Supermärkte alle schließen müssen, weil die Menschen Lebensmittel nur noch online kaufen werden. Da habe ich mir gedacht: Was erzählt der mir eigentlich? Aber so ganz falsch war die These nicht, der Trend geht dahin. Was bedeutet das für uns? Es bedeutet, dass es bei der Digitalisierung nicht nur um SAP- oder ERP-Projekte geht, sondern auch um Kunden- und Lieferantenanbindung, um eine direkte Kommunikation mit dem Kunden. Darum, ein Feedback von ihm einzuholen, sein Verhalten zu analysieren und auf dieser Basis Produktentscheidungen zu treffen. Und was den Vertrieb angeht: Den steuern wir inzwischen international komplett aus München heraus.

Die EU und Deutschland machen gerade große Fördertöpfe für die Halbleiterindustrie auf. Betrifft Sie das genauso? Werden Sie davon profitieren?

Weßing: Ich war jüngst in einem Expertengremium zu dem Thema dabei. Ob die EU ihren Rückstand aufholen kann? Ich kann es nicht beurteilen. Wir in Deutschland haben momentan ja nur im Raum Dresden einen namhaften Hersteller von Komponenten. Aber wir haben derzeit weltweit ein großes Kapazitätsproblem. Meiner Ansicht nach sollte man die Wertschöpfungskette von Software, Hardware und Halbleiter geschlossen abbilden. Wir sollten uns fragen, was wir aus dem Halbleiter machen und – noch mal – was der Kunde eigentlich will. Das habe ich in der Diskussion im Gremium auch so vertreten.

Woher beziehen Sie die Halbleiter-Komponenten für Ihre Produkte?

Weßing: Bei europäischen und amerikanischen Firmen, die in Asien produzieren.

Hatten Sie ähnliche Lieferschwierigkeiten wie es in der Automobilindustrie der Fall war?

Weßing: Ja, dramatische Schwierigkeiten, trotz Forecast. Sie müssen sich vorstellen: Wir sagen, wir liefern innerhalb von 24 Stunden zum Kunden und die sagen, sie liefern die Chipsätze innerhalb von 60 Tagen. Bringen Sie das mal zusammen! Unsere Auftragsreichweite liegt momentan bei weniger als zehn Tagen und soll auf drei Tage sinken. Wir haben 1600 Varianten und müssen die Flexibilität zum Endkunden aufrechterhalten.     

Aber das spräche dann ja dafür, Europas Halbleiterindustrie wieder aufzubauen.

Weßing: Ja sicher, aber die Frage ist doch, warum wir sie denn abgebaut haben? Diejenigen, die heute mit an erster Stelle stehen und reden, haben damals gesagt, das brauchen wir nicht, das ist alles zu teuer. Dabei war schon vor 25 Jahren klar, dass es in Zukunft nicht ohne die Halbleiterindustrie geht.   

Gigaset ist auch im Bereich Smart Home aktiv. Was für Lösungen bieten Sie da an?

Weßing: Alles rund um die Sicherheitstechnik und Hauskommunikation. Leider ist das momentan noch schwierig, am Markt unterzubringen. Aber wir denken an morgen und beispielsweise in die Richtung Smart Care für jüngere Ältere, für die wir gemeinsam mit Pflegeanbietern Lösungen schaffen wollen, damit diese Menschen länger in ihren Eigenheimen wohnen können. Das alles ist in einem eigenentwickelten cloudbasierten System angelegt, sodass man sich die Leistungen intelligent zusammensuchen kann. Die Cloud steht in Deutschland, um die Datensicherheit hochzuhalten. Das liegt mir persönlich sehr am Herzen.

Wie stehen Sie zu 5G? Oder zur 6G-Technologie, an der das Zukunftslabor der TU München gerade arbeitet und es eventuell die Option für Europa gibt, eine Vorreiterrolle einzunehmen?

Weßing: Ich sag’s mal so: Theoretisch ist das ganz nett. Aber wir sind bei uns noch nicht mal überall bei 4G oder Glasfaser angekommen. Und der Umstieg auf 5G wird in Europa länger dauern als wir denken, allein schon wegen der gesamten digitalen Infrastruktur hier im Land.
Zweitens wären für 6G noch mal massive Investitionen in die Infrastruktur nötig, was wieder erhebliche Widerstände mit sich brächte. Danach ist die Frage: Wofür nutzen Sie es? 90 Prozent der Endkunden brauchen eigentlich nicht mal 5G. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Natürlich werden wir als Gigaset im nächsten Jahr auch 5G-fähige Smartphones auf den Markt bringen. Aber ob der Nutzen dann schon da ist? Schwierig! Wenn Sie in der Automobilindustrie sind und sich mit fahrerlosen Transportsystemen beschäftigen oder wenn es um die Logistiksteuerung und die Industrie 4.0 geht, dann sehe ich den technischen Vorteil eher, da brauchen Sie eine schnelle Datenkommunikation. Allerdings kommt ja mittlerweile auch eine Gegenwehr durch WiFi 6. Da ist die Infrastruktur in allen Firmen teilweise schon vorhanden. Der Kampf zwischen 5G und WiFi 6 im Industrieumfeld  ist noch nicht entschieden. 

Herr Weßing, zum Abschluss spielen wir gute Fee: Welchen Wunsch können wir von Drees & Sommer Ihnen erfüllen?

Weßing: Helfen Sie, die Botschaft zu transportieren, dass die Elektronik ein Standbein für Europa in der Zukunft ist, nicht nur die Kommunikationstechnologie, sondern die Elektronik insgesamt. Dieses Bewusstsein wollen wir schaffen.