Ein Rahmen der Fairness für den Markt

Dr. Christoph Brüssel ist ein Mann der vielfältigen Einblicke: Schon während des Studiums der Rechts- und der Politikwissenschaften war er Reporter im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Fürs Privatfernsehen produzierte er Unterhaltungsformate wie „Talk im Turm“, als Musikproduzent arbeitete er mit Showgrößen wie SEAL oder Paul Young zusammen. Anfang der 90er-Jahre wurde er Wahlkampfleiter von Helmut Kohl. Inzwischen kommt er auf mehr als 30 Jahre Erfahrung in der Landes- und Bundespolitik. Dr. Brüssel, der seit 2016 einen Lehrauftrag der Universität Bonn am Institut für Politikwissenschaften und Soziologie hat, weiß also zu kommunizieren – eine wichtige Eigenschaft als Vorstandsmitglied im Senat der Wirtschaft.   

Herr Dr. Brüssel, wofür steht der Senat der Wirtschaft und was unterscheidet ihn von anderen Interessenorganisationen?

Brüssel: Der Senat der Wirtschaft vereint Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Wir sind rein gemeinwohlorientiert und vertreten keine partikulären Interessen, weder für bestimmte Unternehmen noch für einzelne Branchen. Unsere Mitglieder sind sich ihrer Verantwortung für die Gesellschaft in einer ökologische-sozialen Marktwirtschaft und für die großen Herausforderungen unserer Zeit sehr bewusst. Wir möchten die Politik mit unseren Erfahrungen und praxisorientierten Lösungsansätzen unterstützen und – das unterscheidet uns von vielen anderen – wir wollen das im Dialog tun. Ein echter Dialog, kein Scheindialog. Politische Akteure müssen sich uns gegenüber nicht rechtfertigen. Wir stellen keine Forderungen, wir geben Impulse.         

Die Länder Europas interpretierten den Begriff der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft teilweise sehr unterschiedlich und leben bestimmte Egoismen. Wie muss man damit umgehen?

Brüssel: Grundvoraussetzung in einem Diskurs ist, Kraft und Mut zur Pluralität zu haben. Das bedeutet nicht, jedem und allem hinterherzulaufen, sondern eine klare Position zu beziehen. Wir wollen im Diskurs eine Definition von Verantwortung, Nachhaltigkeit und Ehrlichkeit finden. Es gibt nicht die eine Lösung, genauso wenig wie es die eine Wahrheit gibt. Wenn wir nach Betrachtung aller Begebenheiten aber zu einer Entscheidung kommen, müssen wir uns auch trotz aller Pluralität ehrlich von denen abgrenzen, die eine andere Interpretation vertreten. Wir wollen keine Beliebigkeit. Man kann nicht alles schlucken und mitmachen. Vor allem grenzen wir uns klar von ideologischen und dogmatischen Sichtweisen ab. Es braucht Offenheit und Transparenz.

Wenn wir Sie richtig verstehen, setzen Sie auf intrinsische Motivation. Darauf, das Richtige zu erkennen. Funktioniert das in der Wirtschaft oder muss die Politik eingreifen und Rahmenbedingungen schaffen. Und falls ja: Bis zu welchem Grad?

Brüssel: Die intrinsische Motivation ist die Königsklasse, sie ist das Ideal. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass jeder altruistisch denkt und handelt. Es wird keine Nachhaltigkeit ohne vom Staat festgelegte Regeln geben. Die wenigsten derer, die Adam Smith und seine Unsichtbare Hand zitieren, wissen, dass die Ikone des freien Marktes in seinem fünften Buch genau das geschrieben hat: dass es Regeln geben muss, damit wir sowohl den Markt im Blick behalten als auch die Menschen, die sich darin bewegen.  Auch die Begründer der sozialen Marktwirtschaft haben klar gesagt, dass der Markt nicht alles selbst reguliert und die Regeln nicht statisch sind. Prof. Alfred Müller-Armak zum Beispiel hat als hochbetagter emeritierter Professor gesagt, die soziale Marktwirtschaft werde sich den gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen können. Der berühmte Ludwig Erhard als politischer Vollstrecker der sozialen Marktwirtschaft hat immer eingewandt, die Gesellschaft müsse sich der sozialen Marktwirtschaft anpassen, was natürlich bedeutet: der Wirtschaft. Prof. Alfred Müller-Armak sah es andersrum. Ich interpretiere daraus, dass die ökologisch-soziale Marktwirtschaft eine Folge dieser Vorstellung ist und die Väter der sozialen Marktwirtschaft heute die ökologische Komponente als Möglichkeit sehen und einpreisen würden. Und wir sind jetzt ja nicht an die Vergangenheit gebunden, sondern der Zukunft verpflichtet. Wir sehen die ökologisch-soziale Marktwirtschaft nicht als Option, sondern als Notwendigkeit. Auch die gegenwärtige Pandemie und die vielen Starkwetterereignisse und Katastrophen der jüngeren Zeit sind aus unserer Sicht etwas Systemisches, das uns nicht verlassen wird, sondern Konsequenzen für uns alle hat. Wir als Menschen der Wirtschaft sollten die Zeichen der Zeit sehr ernst nehmen und uns so ausrichten, dass wir resilient agieren, um dieses schöne Schlagwort zu gebrauchen.

Was zeichnet für Sie ein gutes Regelwerk des Staates aus?

Brüssel: Es beachtet beide Seiten: die individuelle Entscheidungsfreiheit, genauso wie gesellschaftlich notwendige Gemeinsamkeiten. Ziel soll sein, dass diejenigen, die intrinsisch motiviert sind nachhaltig zu managen, eine Legitimation gegenüber den Anderen haben und der Markt, der durchaus nach eigenen Gesetzen funktionieren darf und soll, einen Rahmen der Fairness bekommt. Innerhalb dieses Rahmens bestimmt die individuelle Kreativität, das zu tun, was jedem das beste Ergebnis beschert. Das ist dann weder Dirigismus noch absolute Liberalität.     

Der Journalist Gabor Steingart sagt, der Staat in seiner heutigen Verfasstheit sei das Problem, nicht die Lösung und die Chance liege im Kreativpotenzial des Individuums. Was antworten Sie darauf?

Brüssel: Wir leben in einer Epoche, in der wir uns stark verändern sollten. Ich sehe diese Veränderung positiv. Ich halte es auch für völlig richtig, die individuelle Entscheidungskraft stärker zu fördern, denn wenn man staatliche Konventionen überbetont, führt das zu Problemen, weil dann die Gefolgschaft weiter Teile von Gesellschaft und Wirtschaft nicht mehr gegeben ist. Wir brauchen die Kreativität und Mitwirkung aller. Von Eugen Roth gibt es ein sehr schönes Zitat: Politik ist nichts anderes als die Gestaltung der eigenen Angelegenheiten. Alles, was ich tue, ist demnach Politik. Ich kann also von der Politik nicht erwarten, dass sie all meine Probleme regelt.

Das Motto der Themenreise 2021 lautet „Aufbruch zur nachhaltigen Transformation“. Um zu wissen, wohin man aufbrechen will, muss man erst wissen, wo man steht. Wie sehen Sie die Ausgangslage unserer Nation?

Brüssel: Wir sind in keiner katastrophalen Ist-Situation. Das Problem ist eher die Wahrnehmung. Das wird einem bewusst, sobald man sein eigenes Leben spiegelt und reflektiert. Die meisten von uns leben in einem sehr hohen Wohlstand, sind aber nicht immer sehr zufrieden. Dabei sind wir niemals in einer wirklich schlimmen gesamtgesellschaftlichen Situation gewesen. Wir leben seit mehr als 70 Jahren in Frieden. Wohlstand braucht ständiges Wachstum, das ist nicht schlimm, sondern anthroposophisch notwendig – auch Pflanzen streben nach Wachstum. Aber es sollte ein intelligentes, qualitatives Wachstum sein. Endloses Wachstum ohne Sinn und Zweck ist hoffnungslos. Nun, nach dieser 70 Jahre langen Phase des Wohlstands, ist es extrem schwer geworden, weiteren Zuwachs zu erreichen. Wir haben uns daran gewöhnt und wollen mehr. Uns fehlt der Respekt und ein Stück Demut.

Was bedeutet das für die EU, die derzeit zuweilen sehr fragmentiert daherkommt, das Zusammenspiel im globalen Kontext aber viele Chancen birgt? Die letzte Chance für Europa, wenn wir der verstorbenen ungarischen Philosophin Agnes Heller glauben dürfen, die gesagt hat, wenn die EU zerfalle, werde Europa untergehen wie das Römische Reich.

Brüssel: Die EU ist Grundlage für den eben erwähnten Frieden und Wohlstand. Ohne sie hätten wir so manche Krise nicht überstanden. Natürlich könnte Deutschland zum Beispiel in der jetzigen Phase allein viel schneller impfen, aber es wäre auf lange Sicht nicht ohne Folge, wenn stattdessen etwa in Spanien oder Portugal die Menschen massenhaft gestorben wären. Kritiker sagen ja oft, wir seien die Geldbörse Europas und würden andauernd an die anderen zahlen, aber wir leben davon, einen großen Markt zu bedienen. Ich hatte einmal einen wunderbaren Moment mit unserem Ehrensenator, dem damaligen Ministerpräsidenten von Luxemburg, Jean-Claude Juncker. Wir standen im Haus der Bundespressekonferenz und er erzählte von einer Begegnung mit Xi Jinping in Peking, den er mit den Worten „Wir beide stellen 30 Prozent der Weltbevölkerung dar" in den Arm genommen hat. Dann schaute Juncker aus dem Fenster zum Kanzleramt und sagte: „Dort drüben ist das Büro meiner Freundin Angela. Wenn die sich mit Jinping trifft, ist es keine andere Zahl.“ Das macht so viel aus. Wir sind in Deutschland mit unseren verschwindend geringen 82 Millionen Menschen global kein Faktor, als Teil der EU schon. Und das hat nicht nur Konsequenzen für unseren Wohlstand, sondern auch für unsere Sicherheit. Wer gegenseitig Handel treibt, geht sorgsamer miteinander um. Ich bin davon überzeugt, dass die EU Schwierigkeiten bekommen wird, zusammenzubleiben. Aber ich bin genauso davon überzeugt, dass sie die Zukunft für uns darstellt.   

Ist der European Green Deal aus Ihrer Sicht eine Chance oder eine Bürde für die Wirtschaft?

Brüssel: Er kann wirklich der große Wurf werden, wenn es gelingt, mit ihm eine neue Epoche der Industrialisierung einzuläuten und eine neue Kultur von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik für die digitale Transformation aufzubauen. Wir können durch den technologischen Wandel unseren Wohlstand bewahren und produktiv bleiben, ohne die Umwelt weiter so stark zu belasten. Das ist das Entscheidende am Green Deal, nicht das Klein-Klein. Wir nehmen medial hauptsächlich wahr, dass er ein neues Regelwerk schaffen will, aber das ist nicht der Kern. Der Senat der Wirtschaft hat übrigens eventuell etwas damit zu tun, dass Jeremy Rifkin einen Beratervertrag von der EU bekommen hat. Der Green Deal ist sein Gedankengut. Er hat schon vor sechs Jahren einen Aufsatz dazu geschrieben. Wir hatten Rifkin mehrfach bei uns zu Gast und er hat uns gefragt, ob wir nicht seine Botschaft in die deutsche oder europäische Politik transportieren wollen. Rifkin sagte uns: Ihr in Europa habt immer den Weg geistiger Entwicklungen für kulturelle Veränderungen der Gesellschaft auf allen Kontinenten geebnet. Rennt nicht dem Silicon Valley nach, sondern denkt weiter, macht den nächsten Schritt.  Das haben wir unter anderem an Jean-Claude Juncker und Ursula von der Leyen weitergetragen.

Sie sprachen schon viel über Wohlstand, Demut und Unzufriedenheit. Ganz provokant gefragt: Ist die Klimadebatte, die wir führen, ein Luxusproblem?

Brüssel: Es ist ein Luxusthema, dass zum Problem geworden ist, weil wir unseren Luxus so ausgelebt haben. Aber das hört sich jetzt viel zu polarisierend an. Es ist für uns alle das vitale Thema. Das merken Sie daran, dass die Auswirkungen nicht theoretisch sind, sondern sehr praktisch. Auch die Pandemie ist eine evolutionäre Reaktion der Natur auf unsere Zivilisation. Die Natur versucht immer, ein Gleichgewicht herzustellen, beispielsweise durch den Einsatz von Bakterien und Viren. Es ist unsere dringende Verpflichtung, uns darauf einzustellen.

Worauf wir hinauswollten: Die junge Generation zeigt sich bei Fridays For Future sehr klimabewusst. Andererseits bestellt sie massenhaft Waren im Internet und schickt sie wieder retour, weil irgendeine Kleinigkeit nicht passt.

Brüssel: Viele sagen ja, die Kids gehen zur Demo, zwingen aber die Eltern dazu, sie im SUV dorthin zu bringen. Da stellt sich dann die Frage, was relevanter ist: das Ergebnis oder die Nebenerscheinungen? Man kann sich natürlich über Fridays For Future ärgern, aber man muss respektieren, wie sehr die jungen Menschen die Welt in Bewegung versetzt haben. Wir stehen in engem Kontakt zum UN-Klimasekretariat. Dort sagte man uns: „Erst durch Fridays For Future kommen wir in die Situation, die Dinge praktisch anzugehen.“ Vorher haben die politischen Akteure viel gelabert, jetzt stehen sie unter Druck. Ähnlich ist es in der Wirtschaft, die sich ihren Konsumenten ausgesetzt fühlt.

Wie integrieren Sie den Nachwuchs bei Ihnen?

Brüssel: Wir haben das institutionalisiert über unseren Jungen Senat, durch den wir uns offen zeigen für Erben oder Nachfolger aktueller Senatsmitglieder. Wir wollen unsere Werte der nachhaltigen Unternehmensführung auch in die nächste Generation tragen. Wir haben aber auch in den Senat selbst einige junge Mitglieder berufen. Eine ganze Reihe ist unter 40, und die sind alles andere als Schaumschläger. Der Jüngste ist noch keine 30, hat aber schon sieben Unternehmen aufgebaut.    

Herr Dr. Brüssel, Michael Braungart, der Mitentwickler des Cradle-to-Cradle-Prinzips, sieht die bisherigen Bemühungen deutscher Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit sehr kritisch. Auch der Green Deal der EU geht ihm nicht weit genug. Er sagt: Statt klimapositiv zu werden, wie es nötig wäre, baut die EU ein riesiges Förderprogramm für die Müllindustrie auf. Ist das kreiswirtschaftliche Denken in unseren Unternehmen schon weit genug verbreitet? 

Brüssel: Ich glaube nicht. Da liegt noch einiges im Argen, aber wir sind auf dem Weg. Es braucht dazu Kreativität, vielleicht auch Regulierung. Wobei man nicht alles regulieren kann. Auch der Verbraucher ist gefragt, darauf zu achten, was er kauft. Wir haben im Senat Mitglieder aus der Recycling- und Abfallwirtschaft. Die wollen im Rahmen unserer Energiekommission etwas vorantreiben. Das humpelt leider etwas in der Pandemie, weil eine geplante Veranstaltung nicht stattfinden kann und das digital zu machen nicht wirkungsvoll wäre. Aber teilweise ist das ein knallhartes Geschäft und viele Vertreter der Recycling- und Abfallwirtschaft verdienen sich dumm und dämlich, weswegen die sich ungern bewegen. Die transportieren Massen an Müll einfach nach Afrika und was die da mit dem Zeug machen, weiß keiner – die Vermutung liegt nahe, dass es nichts Gutes ist. Da müssen wir dran drehen. Dann haben wir das Problem zwar hier, aber lösen müssen wir es so oder so.