Kraft durch Einheit in Europa

Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Ketter, Professor für Information Systems for Sustainable Society an der Universität zu Köln, Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts (EWI) und Professor an der Rotterdam School of Management an der Erasmus University in Rotterdam.

1972 an der schönen Mosel in Traben-Trarbach geboren, zog es Wolfgang Ketter (Twitter @wolfketter) schon während des Studiums der Informations- und Kommunikationstechnik in die USA. An der University of St. Thomas, St. Paul, Minnesota, studierte er Software Engineering und anschließend promovierte er an der University of Minnesota auf den Gebieten der Künstlichen Intelligenz und Wirtschaftsinformatik. 2007 kehrte er zurück nach Europa, erst nach Rotterdam, dann nach Köln. Des Weiteren ist er Visiting Professor an der University of California at Berkeley. Ketter ist ein weltweit anerkannter Experte für Künstliche Intelligenz, Machine Learning und Intelligent Agents. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die nachhaltige digitale Transformation der Energie- und Mobilitätswelt.

Herr Prof. Ketter, wir befinden uns in einem steten Wettbewerb um knappe Ressourcen, Marktzugänge, digitale Infrastrukturen und Datenmanagement. Wie sollte sich Deutschland in diesem Wettbewerb positionieren?

Ketter: Wir sollten uns zuerst einmal die Frage stellen, ob das Wirtschaftswachstum, von dem unsere Staatsoberhäupter so gern reden, der richtige Maßstab ist. Ich kaufe denen das Märchen vom unbegrenzten Wachstum nicht ab. Irgendwoher müssen die Ressourcen dafür kommen – und die Ressourcen sind begrenzt. Positionieren sollten wir uns in Deutschland – und besser noch: grenzüberschreitend in Europa – eher so, dass wir mit dem zurechtkommen, was wir haben. Ich bin Mitglied beim World Economic Forum und Co-Leiter des Bereichs Mobilität, Energie und Künstliche Intelligenz. In einem in diesem Frühjahr erscheinenden Bericht hat sich unsere Expertengruppe mit der Zukunft der Mobilität beschäftigt; ich war einer der Hauptautoren. Wenn wir umsetzen würden, was man im Englischen „Internalize external costs“ nennt, also wenn wir alle anfallenden Kosten korrekt bepreisen würden, kämen wir mit unseren knappen Ressourcen und unserer vorhandenen Infrastruktur gut zurecht. Das tun wir momentan aber nicht, aber wir sollten dies in der Zukunft tun, da die IT die notwendigen Daten sammeln und in Echtzeit handeln kann. Wir bepreisen beispielweise die Staus auf unseren Straßen nicht richtig, oder besser gesagt gar nicht. Dies ist aber wichtig, wenn wir Staus vermeiden oder zumindest stark verringern möchten. Es ist gut, wenn Deutschland eine Energie- und Verkehrswende anstrebt, aber wir dürfen das nicht isoliert betrachten, wir brauchen vereinte Lösungen. Eine große Errungenschaft der EU war der Wegfall der Roaming-Gebühren im Mobilfunk. Ähnliche Lösungen müsste es im Energiebereich auch geben, z.B. in Bezug auf das intelligente Laden von Elektroautos in dem man gleiche Standards hat und keine zusätzlichen Gebühren mehr zahlt wenn man bei einem anderen Anbieter sein Auto auflädt. 

Sehen Sie Europa auf einem guten Weg, eine Schablone der Zukunftsentwicklung zu erstellen, um Vorbild zu sein und voranzuschreiten in Richtung künftiger Märkte? 

Ketter: Teilweise. Ich bin 2017 nach 22 Jahren im Ausland – elf in den USA, zehn in Holland, eines in Großbritannien und Russland – nach Deutschland zurückgekommen. Bei der Rückkehr habe ich einen Kulturschock erlebt. Die Internetverbindung in den USA war vor zwölf Jahren schon besser als sie heute hier im Durchschnitt ist. Es sollte uns in Europa Sorge bereiten, wenn sich die Top 20 der Tech-Unternehmen zu gleichen Teilen auf die USA und China verteilen. Wir sind sehr konservativ aufgestellt. In manchen Bereichen ist das gut, in anderen nicht. Wenn es um die Förderung von Start-ups und neuen Geschäftsmodellen geht, bräuchten wir mehr Risikobereitschaft und andere Investmentstrukturen. Die EU hat fast 450 Millionen Einwohner, deutlich mehr als die USA. Wir könnten eine ganz andere Wirtschaftskraft entfalten und uns viel unabhängiger von anderen Wirtschaftszonen machen, wenn wir vereinter auftreten würden. In Deutschland denken wir manchmal zu klein. Aber es gibt auch ein paar Lichtblicke, wie zum Beispiel die starken Biotech Firmen (BionTech), oder die Wasserstoffstrategie, oder, dass die EU mehr Wert auf Datenschutz legt als andere Märkte - was zum Vorteil aber auch zum Nachteil werden könnte.

Mehr Mut zu neuen Geschäftsmodellen – das entspricht genau unserer Botschaft. Sie arbeiten in der Forschung mit vielen großen Unternehmen zusammen. Welche Beispiele fallen Ihnen ein, bei denen Entwicklung und Umsetzung neuer Ideen mit Nachhaltigkeitscharakter funktioniert haben? 

Ketter: Mein Leitspruch ist „doing well by doing good“. Wir haben für den Carsharing-Anbieter ShareNow von Daimler und BMW Algorithmen für virtuelle Kraftwerke entwickelt und für Car2Go in Stuttgart bewiesen, dass die Autos quasi kostenlos fahren können, indem Daimler zum Stromhändler wird. Es hängt natürlich von der Wetterlage und dem Anteil der erneuerbaren Energien ab, aber in manchen Sommern produzieren unsere Solarpanels 22- oder 23-mal so viel Energie wie die Kohle- und Kernkraftwerke am Netz. Diese Überschussenergie lässt sich aufnehmen und abgeben. Damit haben die Firmen parallel zu ihrem alten ein neues Geschäftsmodell entwickelt, das gut ist für sie und für die Umwelt. Ein anderes Beispiel: Wir haben mithilfe von Algorithmen die Kühlketten und das Bieterverfahren der holländischen Blumenauktion optimiert – mit der Folge, dass Emissionen vermindert werden und Royal FloraHolland jeden Tag eine Viertelmillion Euro mehr Profit macht – jeden Tag! Diese Forschung wurde gerade mit dem Impact Award des Association for Information Systems ausgezeichnet. Des Weiteren wurden unsere Arbeiten im Bereich des nachhaltigen Öffentlichen Personen Nahverkehrs (ÖPNV) in Bezug elektrischer Busse mit dem INFORMS Wagner Finalized Prize ausgezeichnet. Diese Auszeichnungen erfüllen uns mit Freude, da unsere Ergebnisse nicht nur in Top-Zeitschriften publiziert, sondern auch in die reale Welt implementiert werden. So können Millionen von Menschen tagtäglich von unserer Nachhaltigkeitsforschung profitieren.

Wie müssen sich unsere Häuser, Städte, unsere Mobilität und unser Leben verändern, damit solche neuen Geschäftsmodelle auch zum Tragen kommen? 

Ketter: Wir müssen uns massiv umstellen. Als ich in San Francisco 2016 Professor in Berkeley und Berater von Uber war, sind die UberX Autos zu 80 oder 90 Prozent autonom gefahren – schon 2016, das muss man sich mal vorstellen. Allerdings hat Uber seine Self-Driving Unit nun letztes Jahr an Aurora verkauft. Die Alphabet-Tochter Waymo bringt in Phoenix jeden Tag 400 Kinder autonom zur Schule. In Europa verhindern rechtliche Hürden so etwas noch. Die Technologie ist oft viel weiter fortgeschritten als die Regulierung. Aber ich bin überzeugt, dass wir in zehn bis 15 Jahren auch bei uns jede Menge autonom fahrende Autos haben werden – und das hat natürlich einen Rieseneinfluss auf die Zukunft unserer Städte. Wenn ich das weiß, kann ich jetzt schon planen, dass ich Flächen an den Stadträndern für Sharing-Mobilität und Charging Clusters für das intelligente Laden reservieren sollte und dafür in den Innenstädten Parkhäuser zugunsten von Wohnraum abreißen kann.

Einfluss wird das also auch auf unsere gesellschaftliche Attitüde haben – weg vom 3-2-1-Meins und noch stärker als bisher hin zu einer Sharing Economy. 

Ketter: Exakt. Das Besitzdenken ändert sich längst. 80 Prozent der jungen Generation wollen sich gar kein Auto mehr kaufen – ich merke das auch in meinem privaten Umfeld. Die 18-, 19-jährigen Kinder meiner Freunde wollen ein eigenes Auto nicht mal geschenkt. Meine Kinder sind noch sehr klein, aber eventuell werden sie keinen Führerschein machen, wenn sie groß sind, weil sie ihn nicht mehr brauchen werden. Dass Elon Musk mittlerweile reicher ist als Bill Gates, kommt durch eine börsenseitige Überbewertung von Tesla zustande. Die Analysten sehen Tesla als Software Unternehmen und VW als „old auto“. Ob das gerechtfertigt ist, wird man in Zukunft sehen. Zumindest investiert VW im Moment sehr stark in dem Bereich Elektromobilität und ist technologisch gesehen am Aufholen. Für die deutsche Automobilindustrie ist das ein Problem. Ich habe den deutschen Herstellern schon vor zehn Jahren gesagt, dass sie ihren Laden überdenken müssen.

Offenbar waren Sie nicht sonderlich überzeugend. 

Ketter: Klar, noch ist der Markt groß genug, noch kann man – grob ausgedrückt – fette Verbrenner nach China verkaufen. Aber die Branche sollte stärker an die Zukunft denken. Die Entscheider sollten nicht nur bis zur eigenen Rente denken, sondern sich fragen, wie sich die deutschen Hersteller künftig differenzieren können. BMW hat vor zehn Jahren mit seinem i3 eine Vorreiterrolle eingenommen, das gute Gesamtkonzept aber leider zwischenzeitlich nicht weiterverfolgt. Ich gehe davon aus, dass zukünftig die sogenannte CASE-Mobility dominant sein wird – CASE steht für Connected, Autonomous, Shared und Electric. Wenn die deutsche Autobranche da nichts investiert, macht es eben Tesla. Deren Autos haben vielleicht nicht die Qualität und Langlebigkeit unserer Autos, aber das interessiert den Durchschnittsmenschen nicht.

Wir halten fest: Die Gesellschaft ändert sich schon, Wirtschaft und Industrie sollten dringend nachziehen. Wie steht es um die Politik? Sie haben schon angedeutet, dass Ihnen manche Gesetzgebungsverfahren zu langsam gehen. 
 
Ketter: Ich möchte nicht zu hart sein, aber die digitale Infrastruktur in Deutschland ist meines Erachtens desolat. Es fehlt an einer gemeinsamen Vision und einer gesamtheitlichen Strategie. Wir haben das zuletzt zu Beginn der Pandemie in den Schulen gesehen. Es ist erschreckend, wie weit wir zurück sind. Als ich 1997 in den USA an High Schools unterrichtet habe, gab es da schon bestens ausgestattete Computerlabore, die waren sieben Tage die Woche 24 Stunden geöffnet. Zuletzt haben wir uns sehr intensiv mit dem Bieterverfahren für 5G beschäftigt. Wir haben aber noch nicht mal überall ein funktionierendes 4G-Netz. Fürs Autonome Fahren, das Internet of Things oder auch nur eine gute Verkehrs- und Energiewende brauchen wir aber ein sehr schnelles 5G-Netz. Da muss dringend etwas passieren. Und noch ein Punkt: Die Wende muss koordinierter stattfinden, denn ein unkontrollierter Zuwachs an erneuerbaren Energien kann auch nachteilig sein. Je höher der Anteil der erneuerbaren Energien im Energiemix ist, desto mehr muss man automatisieren.

Was bedeutet automatisieren in diesem Zusammenhang? 

Ketter: Ein einfaches Beispiel: Ich komme nach Hause, stecke mein Elektrofahrzeug an die Steckdose und kümmere mich um nichts weiter. Das Smart Building priorisiert automatisch, wohin wann wie viel Energie fließt – indem es etwa in den Kalender schaut und anhand dessen entscheidet, wann das E-Auto wieder gebraucht wird. Es muss ja nicht immer vollgeladen sein – sie fahren mit ihrem Diesel oder Benziner ja auch nicht jeden Abend an die Tankstelle und tanken voll. Ein intelligentes Gebäude- und Stadtmanagement im Sinne der Nachhaltigkeit ist mit wenig Hardware möglich – kombiniert mit einem intelligenten Software-Agenten auf Basis einer hochintelligenten KI. Die lernt die Präferenzen ihrer Entscheidungsträger und agiert in ihrem Namen strategisch, taktisch und operationell – bei wiederkehrenden Entscheidungen nach und nach automatisiert.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Elemente einer nachhaltigen Gesellschaft? 

Ketter: Zu Beginn von Corona gab es in den sozialen Netzwerken einen Running Gag mit der Frage, wer die digitale Transformation in Firmen am schnellsten vorantreibt: der CEO, der CFO oder Covid-19? Es war natürlich Covid-19. Aber man muss das Gute an der Situation sehen. Die neue Art zu arbeiten sollten wir zumindest teilweise beibehalten. Natürlich: 100 Prozent Homeoffice ist nicht effektiv, aber Videokonferenzen entlasten unsere Straßen. Wenn ich gar nicht erst losfahre, verursache ich keinen Stau. Ich hatte schon erwähnt, dass wir endlich anfangen müssen, die wahren Kosten von Mobilität zu bepreisen. Momentan fahren wir Auto, als würde es überhaupt keine negativen Auswirkungen von Verkehr geben. Ein verbesserter ÖPNV ist ein weiteres zentrales Element einer nachhaltigen Gesellschaft. Wir müssen den multimodalen Verkehr vereinfachen. In den Niederlanden konnte ich schon vor zehn Jahren mit einer einzigen Smart Card in Amsterdam in den Bus steigen, dann den Zug nehmen und in Rotterdam mit der Straßenbahn weiterreisen. In Deutschland hängen wir beim Schienenausbau viele Jahre hinterher – das ist wirklich nicht gut in Bezug auf die angestrebte nachhaltige Verkehrswende! So entlaste ich die Straßen nicht. Wenn ich das eine oder andere – ich sage jetzt mal smoother mache – bekommen die Leute auch mehr Lust auf die Verkehrswende. Zusammengefasst: Eine verbesserte digitale Infrastruktur ist nötig, Veränderung im Energiebereich sind nötig und andere Schwerpunkte in der Mobilität sind nötig.

Wie bewerten Sie unter den gegebenen Umständen den European Green Deal? Ist er geeignet, die Geschwindigkeit aufzunehmen, die wir im Wettbewerb mit den USA und China brauchen? 

Ketter: Der Green Deal an sich ist eine gute Entwicklung. Ursula von der Leyens Ziele sind sehr ambitioniert – die CO2-Emissionen der Europäischen Union im Vergleich zu 1990 bis 2030 um 50-55 Prozent zu reduzieren. Aber um sie zu erreichen, ist zweierlei zu tun. Wir brauchen eine bessere politisch-regulatorische Koordinierung zwischen den Mitgliedsstaaten und wir brauchen aufeinander abgestimmte, smarte, dezentrale Netze. Die ganze Gesellschaft muss digitaler werden und die Politik, allen voran die Bundesregierung, muss das stärker fördern. Wir brauchen eine massive digitale Offensive, sonst droht Europa zwischen den USA und China zerquetscht zu werden. Wenn wir es schaffen, weniger zu streiten, wie zuletzt mit Polen und Ungarn, dann hat die EU die nötige Power, um viele Projekte wie Klimaschutz, Digitalisierung, und Gesundheit voranzubringen.