Zukunftstechnologien im und für das Land

© Martin Stollberg

Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut studierte BWL an der Universität Tübingen und promovierte an der Universität Würzburg. Ihre anschließende Karriere mit Stationen bei Morgan Stanley und Ernst & Young verschlug sie nach London und Frankfurt, sie ist außerdem seit 1999 Mitgesellschafterin der Bizerba SE & Co. KG, eines in der fünften Generation von ihrer Familie geführten Herstellers von Waagen und Schneidemaschinen mit Hauptsitz in Balingen. Ihre Heimatverbundenheit drückt sich auch politisch aus. Acht Jahre lang saß sie für die CDU im Balinger Gemeinderat, seit 2016 vertritt sie den Wahlkreis im baden-württembergischen Landtag und tritt am 14. März 2021 erneut zur Wahl an.

Frau Hoffmeister-Kraut, die Automobilbranche ist für Baden-Württemberg sehr wichtig und erlebt eine Zeit großer Veränderungen. Worin sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen?

Hoffmeister-Kraut: Dazu könnte ich eineinhalb Stunden referieren. Die Mobilität insgesamt steckt mitten in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess. Wir haben uns als Land klar zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens bekannt. Der Handlungsdruck ist enorm, wir müssen den Antrieb von Fahrzeugen neu denken. Die Märkte verändern sich schon, die Nachfrage geht stärker hin zu Hybrid- und in vielen Anwendungsbereichen zu rein elektrisch betriebenen Fahrzeugen. Einiges passiert aktuell in Richtung Brennstoffzelle mit Wasserstoff und der Frage, wie synthetische Kraftstoffe als Beimischung effizienter eingesetzt werden können. Da unterhalten wir uns über regenerative Energien zur Erzeugung von „sauberem“ Wasserstoff. Aber der Verbrennungsmotor spielt nach wie vor eine große Rolle. Man muss bedenken, dass in bestimmten Anwendungen der moderne Dieselmotor am umweltfreundlichsten ist. Hinzu kommt das große Thema der Digitalisierung mit teilautonom fahrenden Automobilen oder zentral geschalteten Updates, auch bestärkt durch die Konkurrenz aus dem Ausland. Dahinter verbergen sich enorme Chancen.

Wie kann die Politik bei all dem dazu beitragen, einen zukunftsträchtigen Weg einzuschlagen?

Hoffmeister-Kraut: Regulativ kann die Politik etwa auf europäischer Ebene durch die CO2-Flottengrenzwerte dazu beitragen. Dieser Veränderungsprozess ist ja ganz stark durch die Nachhaltigkeitsdiskussionen geprägt und wird nur gelingen, wenn wir gleichermaßen ökonomisch, ökologisch und sozial agieren. Wir müssen Transformation gemeinsam denken. In Baden-Württemberg haben wir in den vergangenen Monaten und Jahren vieles mit hohem Aufwand vorangetrieben und im Zusammenhang der Corona-Pandemie das Förderprogramm „Invest BW“ in Höhe von 300 Millionen Euro gestartet, um Investitionen und Innovationen der Wirtschaft zu stimulieren. Gerade in einer Umbruchphase müssen wir sicherstellen, dass Zukunftstechnologien bei uns entstehen und mit ihnen Arbeitsplätze und Wertschöpfung. Wir sehen uns im Land insgesamt auf einem guten Weg.  

Aber im Bereich Elektromobilität führen wir ja nicht den Markt an. Man könnte fast sagen, wir sind Late Follower im Vergleich zu Tesla.

Hoffmeister-Kraut: Ja, da haben Sie recht. Aber rückblickend ist es immer einfach, Entscheidungen aus der Vergangenheit zu hinterfragen. Und eine Follower-Strategie ist nicht immer unbedingt falsch. Es ist Fakt, dass unsere Automobilhersteller gerade sehr viel Geld in Zukunftstechnologien investieren, auch in die E-Mobilität. Ich traue unserer Wirtschaft absolut zu, diesen Aufholprozess erfolgreich zu gestalten. Selbst wenn Tesla mittlerweile bereits in günstigere Preisregionen vorgedrungen ist, gibt es auch von baden-württembergischen Herstellern wettbewerbsfähige Modelle.

Dennoch: Brauchen wir nicht mehr Geschwindigkeit? Bundeskanzlerin Merkel hat zur Schnelligkeit der Pandemie-Politik in Davos ein kritisches Fazit gezogen und unter anderem gesagt: „Wo wir nicht gut aussahen, das zeigt sich bis in die heutigen Tage, das ist der Mangel an Digitalisierung unserer Gesellschaft“. Wie verändern wir das?  

Hoffmeister-Kraut: Wir müssen Regulierungen und Auflagen so definieren, dass ein Vorankommen möglich ist. Wir müssen die digitale Infrastruktur besser ausbauen. Wir brauchen Steuerentlastungen für unsere Unternehmen, damit sie genug finanziellen Spielraum haben, um in Zukunftstechnologien investieren zu können. Zwei Dinge sind für mich ganz wesentlich. Erstens: der stärkere Wissenstransfer aus der Forschung in die Anwendung mit Produkten, die in Baden-Württemberg entstehen. Und zweitens: die Unterstützung der Gründerszene. Baden-Württemberg hat ein sehr erfolgreiches Cyber Valley für Künstliche Intelligenz und mit der Fraunhofer Gesellschaft haben wir bei IBM in Ehningen ein großes Quantencomputing-Projekt auf den Weg gebracht. Auch für unsere Gründerszene haben wir große Anstrengungen unternommen. Wir haben die Kampagne Start-up bw und fördern Acceleratoren. Außerdem haben wir nach israelischem Vorbild das Förderprogramm Start-up bw Pre-Seed aufgebaut, in dessen Rahmen wir gemeinsam mit privaten Partnern in einer frühen Phase in Start-ups investieren und sie eine Zeit lang begleiten. Dadurch erhoffen wir uns noch mal einen Schub in die Szene hinein. Der Austausch zwischen unserem starken Mittelstand, den Kapitalgebern und den Start-ups ist wichtig, denn es gibt ja auch die Möglichkeit, gewisse Technologien über Start-ups einzukaufen. Dazu muss in den Unternehmen allerdings auch die entsprechende Kultur herrschen.  

Das ist tatsächlich auch aus unserer Sicht eine wichtige Aufgabe: die Transformation der Kultur. Baden-Württemberg hat eine so hohe Dichte an Weltmarktführern wie kaum eine andere Region. Der deutsche Unternehmer und Digitalberater Philipp Depiereux fordert in seinem neuesten Buch, wir müssten darüber hinaus „Weltmutführer“ werden. Wie schaffen wir es, die Dinge anders umzusetzen, um uns gegenüber Asien und den USA zu behaupten?

Hoffmeister-Kraut: Wir haben ja solche Unternehmen, die es anders machen und die erfolgreich sind. Denken Sie an CureVac. Oder Teamviewer – ein gutes Beispiel dafür, dass wir auch Digitalisierung können. CureVac – wie übrigens auch Biontech – zeigen allerdings, dass es finanzkräftige Förderer braucht, die an sie glauben und ihnen über einen langen Zeitraum hinweg die Möglichkeit geben, sich zu entwickeln. Bis zu den Impfstoffen wurde mit der messenger-RNA-Technologie noch kein Geld verdient. Dieses Venture Capital brauchen wir, damit solche großen Ideen auch bei uns umgesetzt werden. Das ist ja häufig das Problem: Wenn Innovationen aus Baden-Württemberg heraus entstehen, kaufen die Tech-Giganten sie weg. Im Cyber Valley ist eine Technologie entwickelt worden, mit der man 2D in 3D umwandeln kann, das hat Amazon aufgekauft. Solche neuen Technologien müssen als Chance begriffen werden von unseren baden-württembergischen Unternehmen. Wir werben für mehr Akzeptanz. Ein hemmender Faktor ist, dass die Angst zu scheitern häufig größer ist, als der Mut, ein Risiko einzugehen – erst recht natürlich in den aktuellen Zeiten. Andreas von Bechtolsheim, der unter anderem der Firma Google 100.000 Euro Startkapital gegeben hat, hat einmal gesagt: Für mich liegt das Risiko darin, jene Chancen, die sich mir bieten, eben nicht zu ergreifen.    

Ist Baden-Württemberg gegen Weltkonzerne wie Amazon und Google überhaupt handlungsfähig oder braucht es für tragfähige Lösungen im globalen Wettbewerb nicht neue Formen der bundespolitischen und der europäischen Zusammenarbeit?

Hoffmeister-Kraut: Natürlich, es ist wie beim Klimawandel, dem können wir auch nur gemeinsam etwas entgegensetzen. Baden-Württemberg ist allein zu klein, auch Deutschland ist allein zu klein. Wir brauchen einen starken europäischen Markt, der eine Datenökonomie ermöglicht. Da haben wir noch einige Hürden zu überwinden. Ich finde es gut, dass jetzt eine Diskussion zwischen Datenschutz und Datensouveränität stattfindet, weil wir unseren Unternehmen Daten zugänglich machen müssen – als Grundlage, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Die übermächtigen Konzerne aus USA oder China beherrschen den Consumer-Markt, da sehe ich für unsere Unternehmen tatsächlich nur bedingt Markchancen. Aber im industriellen Kontext mit KI als Schlüsseltechnologie können wir nach wie vor nachhaltig erfolgreich sein und – auch wenn es ein harter Kampf ist – in bestimmten Bereichen die Technologieführerschaft behalten.     

Bedarf es nicht auch disziplinübergreifend ein anderes Miteinander? Sie sind Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau. Das sind sehr heterogene Bereiche, die aber verknüpft sind. Was halten Sie davon, in Baden-Württemberg das Quartier der Zukunft zu entwickeln, in dem alles bedacht ist: Energie, wohnen, arbeiten, neue Formen der Produktion? Wir könnten hier doch Leuchttürme schaffen.

Hoffmeister-Kraut: Absolut. Die europäischen Städtebauministerinnen und -minister haben im vergangenen Jahr die „Neue Leipzig-Charta“ verabschiedet, die genau diese Themen auch mit Blick auf die Quartiersebene verknüpft. Über unsere sehr wirksamen Förderprogramme unterstützen wir die Kommunen bei der Umsetzung. Im Rahmen unserer Wohnraumoffensive stellen wir einen richtigen Innovationsschub fest. Primär geht es da um bezahlbaren Wohnraum, aber auch um neue innovative Konzepte für das Bauen und Wohnen der Zukunft, z. B. flexibel auf veränderte Bedarfe reagierende Wohnangebote oder effizientere Gebäude. Wir haben ein Kompetenzzentrum Wohnen eingerichtet, um Kommunen zu beraten und zu unterstützen. Wir müssen die Stadt auch deshalb neu denken, weil wir, beschleunigt durch Corona, feststellen, wie der stationäre Einzelhandel immer stärker unter Druck gerät. Da müssen wir andere Magnete schaffen, damit er auch in Zukunft sein Potenzial an Kundinnen und Kunden hat. Wir brauchen mehr Wohnen, mehr Kultur, mehr Kunst, eine höhere Attraktivität nicht zuletzt der öffentlichen Räume und Vielfalt in den Städten. Wenn sich ein so großer Filialist wie Douglas aus der Stuttgarter Königstraße zurückzieht, ist das auch für die Landeshauptstadt ein Schlag ins Kontor.

Wir gehen ebenfalls davon aus, dass wir in den nächsten Jahren viele Veränderungen erleben werden. Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht der Diskurs zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft?

Hoffmeister-Kraut: Sehr wichtig. Die Antworten auf die Frage nach der Stadt der Zukunft müssen aus der Stadt selbst herauskommen, um Akzeptanz herzustellen. Sie lassen sich nicht überstülpen.