Lebensqualität durch Klimaschutz

Rainer Baake hat seine Expertise im Klima- und Energie-Bereich über die vergangenen Jahrzehnte in vielen Ämtern bewiesen. Das begann – nach dem Abitur, mehreren Jahren als Community Organizer in Chicago und einem Volkswirtschaftsstudium an der Philipps-Universität Marburg – 1985, als er im Landkreis Marburg-Biedenkopf Umweltdezernent wurde. 18 Jahre lang fungierte der Grünen-Politiker als Staatssekretär, zunächst im Hessischen Umweltministerium, dann im Bundesumweltministerium, zuletzt bis 2018 im Bundeswirtschaftsministerium, in das ihn Sigmar Gabriel geholt hatte. Baake war Gründungsdirektor der Agora Energiewende und Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe. Im Juni 2020 wurde er Direktor der neugegründeten Stiftung Klimaneutralität.

Herr Baake, Sie sind vor etwas mehr als einem Jahr mit der Stiftung Klimaneutralität gestartet. Aus welchem Antrieb heraus?

Baake: Im vergangenen Sommer standen wir vor der Situation, dass die Bundesregierung einerseits erklärt hatte, Deutschland solle bis 2050 klimaneutral werden, andererseits aber nicht aufgezeigt hatte, wie sie dieses ehrgeizige Ziel erreichen will. Das passte nicht zusammen. Der vollständige Ersatz von Kohle, Erdöl und Erdgas durch Effizienzsteigerungen und erneuerbare Energien binnen weniger Jahrzehnte stellt eine große Herausforderung dar. Wir brauchen eine ehrliche Diskussion über die große Transformation zur Klimaneutralität; wir dürfen den Menschen in unserem Land nicht verschweigen, dass Veränderungen notwendig sind, die auch nicht immer allen gefallen werden. Wir haben daher vor einem Jahr die Stiftung mit der Intention gegründet, Wege zur Klimaneutralität aufzuzeigen. Vor diesem Hintergrund haben wir als erstes Projekt ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag gegeben, mit dem Ziel, einen Pfad zu ermitteln, der sowohl realistisch als auch ökonomisch optimiert ist. Das Gutachten wurde erstellt von Prognos, Öko-Institut und Wuppertal-Institut. Auftraggeber waren wir in Zusammenarbeit mit den beiden Agoras. Die Ergebnisse haben wir Ende 2020 vorgestellt und aufgezeigt, wie ein Weg zur Klimaneutralität aussehen kann. Das Zieljahr 2050 war durch den Beschluss der Bundesregierung gesetzt. Da die Klimaziele des Paris-Abkommens jedoch einen Wettlauf mit der Zeit darstellen, hatten wir die Gutachter beauftragt, zusätzlich zu untersuchen, ob es auch schneller gehen kann. Die Antwort auf diese Frage lautet „ja“; Klimaneutralität ist schon 2045 möglich; das Zwischenziel für 2030 muss auf 65 % Minderung angehoben werden. Auf diese Weise ersparen wir der Atmosphäre zusätzlich knapp eine Milliarde Tonnen Treibhausgase. Das Gutachten haben wir am 26. April vorgestellt. Drei Tage später veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht seinen vielbeachteten Beschluss zum Klimaschutz.

Die Richter gaben Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz teilweise recht.

Baake: Richtig. Das Urteil enthielt eine klare Ansage: Ohne Klimaschutz keine Freiheit. Das Bundesverfassungsgericht sah in der Verschiebung von Minderungslasten in die Zukunft eine Verletzung der Freiheitsrechte der heutigen Jungend. Das Verfassungsgericht gab der Regierung auf, das Klimaschutzgesetz bis Ende 2022 zu korrigieren. Offensichtlich wollte die Regierung jedoch nicht mit einem teilweise verfassungswidrigen Klimaschutzgesetz in die Bundestagswahl gehen und entschied sich für eine schnelle Korrektur. Dabei übernahm sie die beiden wesentlichen Eckpunkte unseres Gutachtens, nämlich Klimaneutralität bis 2045 und Anhebung des Zwischenziels für 2030 auf minus 65 %. Der Bundestag hat das Gesetz inzwischen verabschiedet. Das ist gut, Klimaziele sind wichtig, weil sie Orientierung geben. Aber Ziele allein mindern keine Treibhausgase. Dazu bedarf es konkreter Maßnahmen und Instrumente. Da die Regierung diese bislang schuldig geblieben ist, haben wir am 17. Juni dazu 50 konkrete Vorschläge unterbreitet.

Welche Maßnahmen schlagen Sie vor?

Baake: Im Kern gibt es vier strategische Leitlinien. Die erste lautet: Wir müssen Fehlinvestitionen vermeiden. Wenn ich das sage, nicken immer alle, weil es so logisch klingt. Aber erinnern wir uns; es ist gerade mal zehn Jahre her, da sind in Deutschland zwölf neue, große Kohlekraftwerke ans Netz gegangen, damals gefeiert von den Betreibern und der Bundesregierung als angebliche Klimaschützer, weil ihre Wirkungsgrade besser waren als die der Altanlagen. Heute greift unsere Regierung tief in die Taschen von uns Steuerzahlern, um diese Anlagen mit einem Milliardenaufwand wieder aus dem Markt herauszukaufen. So etwas darf in Zukunft nicht mehr passieren. Wir müssen in den einschlägigen Gesetzen klar festlegen, dass ab dem 1. Januar 2045 der Einsatz von fossilen Brennstoffen nicht mehr zulässig ist. Das muss für alle bestehenden Anlagen gelten, für alle neuen und selbstverständlich auch für die Erdgasinfrastruktur. Warum das wichtig ist, zeigt ein Beispiel. 2019 beschloss die Bundesregierung „Klimaneutralität bis 2050“. Im Folgejahr kam es zu Rekordinvestitionen in das deutsche Erdgasnetz. Die staatliche Regulierung sieht bis heute vor, dass die Erdgasnetze über einen Zeitraum von 45 bis 65 Jahren abzuschreiben sind. Das passt vorne und hinten nicht zum Klimaziel, nicht zum alten Ziel 2050 und erst recht nicht zum neuen Ziel 2045. Wenn der Bund nicht schnell handelt und ein Enddatum für die Nutzung der fossilen Energieträger festlegt, laufen wir in eine Entschädigungsfalle. Dann würde der Weg zur Klimaneutralität sehr, sehr teuer, möglicherweise sogar unbezahlbar.

Wie lauten die anderen drei Leitplanken?

Baake: Diese lauten: Steigerung der Energieeffizienz, weitgehende Elektrifizierung aller Sektoren und dort, wo dies nicht möglich ist, der Einsatz von Wasserstoff. Unsere Volkswirtschaft funktioniert derzeit zu 80 % auf der Basis von fossilen Energieträgern Kohle, Erdöl und Erdgas müssen bis 2045, also innerhalb von 23 Jahren vollständig ersetzt werden. Das geht nicht eins zu eins mit erneuerbaren Energien. Wir brauchen einen deutlichen Schub bei der Effizienz. Bis 2045 können wir unseren Primärenergieeinsatz halbieren, unter anderem dadurch, dass die ganzen ineffizienten Verbrennungsprozesse wegfallen. Die dritte Leitlinie ist die weitgehende Elektrifizierung der anderen Sektoren. Es ist immer günstiger, Strom direkt einzusetzen, z.B. in batterieelektrischen Fahrzeugen oder Wärmepumpen als ihn erst in Wasserstoff oder synthetische Brennstoffe umzuwandeln, um damit Auto zu fahren oder Häuser zu heizen. Aber weil eine Elektrifizierung nicht überall möglich sein wird, brauchen wir Wasserstoff. Bei der Stahlproduktion und in Teilen der Chemieindustrie ist Wasserstoff auf dem Weg zur Klimaneutralität ein unverzichtbarer Rohstoff. Außerdem brauchen wir Wasserstoff als Speichermedium im Stromsektor.

Kritiker weisen darauf hin, dass es in einem Stromsystem mit erneuerbaren Energien an Speichern fehle.

Baake: Ja, das höre ich immer wieder. Dabei geht es vor allem um Langzeitspeicher, die einen mehrwöchigen Zeitraum mit wenig Wind und Sonne überbrücken können. Das Problem ist allerdings gelöst. Die Stromproduktion werden in diesen Zeiten Gaskraftwerke übernehmen, also Anlagen die zunächst mit Erdgas und dann zunehmend mit klimaneutralem Wasserstoff betrieben werden. Wasserstoff kann wie Erdgas gespeichert werden. Wichtig ist, dass jedes ab heute gebaute Gaskraftwerk „wasserstoff-ready“ errichtet wird. Für die Produktion von klimaneutralem Wasserstoff braucht man Strom aus erneuerbaren Energien und Wasser. Wir sollten versuchen, so viel Wasserstoff wie möglich national zu produzieren. Nach meiner Einschätzung ist das bis 2030 zu einem Drittel machbar, die restlichen zwei Drittel können aus Offshore-Anlagen im dänischen und niederländischen Teil der Nord- und Ostsee kommen. Darüber muss sehr schnell mit unseren Nachbarn verhandelt werden. Wenn die Produktion der benötigten Wasserstoffmengen aus erneuerbaren Energien nicht schnell genug gelingt, brauchen wir als Übergangslösung blauen Wasserstoff. Ansonsten würden die Klimaziele verfehlt.

Wie stehen Sie zu den Maßnahmen auf europäischer Ebene in Richtung Klimaneutralität?

Baake: Am 14. Juli hat die EU-Kommission ein großes Gesetzespaket vorgelegt, mit dem das europäische Klimaziel für 2030 erreicht werden soll. Dieses Fit-for-55 Legislativpaket besteht aus 54 Gesetz- und Verordnungsentwürfen, die in den kommenden zwei Jahren von den Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament beraten und verabschiedet werden sollen. Den weit überwiegenden Teil der Vorschläge halte ich für gut und zielführend. An einigen Stellen sollten in den Beratungen Verbesserungen durchgesetzt werden. Wichtig ist, dass das Paket nicht von den Interessenvertretern der fossilen Wirtschaft verwässert wird. Ein guter europäischer Rahmen ist wichtig, er wird aber das Handeln der Mitgliedstaaten nicht ersetzen. Von fundamentaler Bedeutung ist daher ein an den Zielen orientiertes Klimaprogramm der nächsten Bundesregierung.

Welche Länder sehen Sie beim Klimaschutz und beim Streben nach Klimaneutralität als Vorbild an?

Baake: Die Bundesrepublik Deutschland war bei Energiewende und Klimaschutz mal ganz vorne mit dabei, jetzt sind wir höchstens noch Mittelfeld. Die Vorsprünge anderer Länder sind meistens in bestimmten Sektoren zu finden. Bei der Gebäudewärme könnten wir viel von Schweden, Dänemark und den Niederlanden lernen, im Offshore-Bereich hat uns Großbritannien den Rang abgelaufen. Aber mir ist ein anderer Punkt wichtiger als solche Vergleiche. Die EU war der erste Akteur, der angekündigt hat, klimaneutral werden zu wollen. 2020 ist dann China gefolgt und nach der Wahl von Joe Biden zum Präsidenten auch die USA. Diese drei großen Wirtschaftsräume der Welt repräsentieren bereits 50 % der globalen Emissionen. Inzwischen haben auch Japan, Südkorea, Kanada und eine Reihe weiterer Länder Klimaneutralität als Ziel erklärt. Es geht jetzt um die Frage, wer hat die klügste Strategie. Natürlich steht im Mittelpunkt der Klimaschutz, aber es geht jetzt auch um die Frage, wer hat mit seinen Klimaschutztechnologien Erfolg auf den Märkten von morgen. Im Mittelpunkt der Debatte müsste eigentlich stehen, Deutschland moderner und lebenswerter zu machen und dafür zu sorgen, dass mit Klimaschutztechnologie made in Germany bei uns gute Arbeitsplätze entstehen.

Für die junge Generation und somit die Fachkräfte der Zukunft hat der Klimaschutz einen hohen Stellenwert. Stimmt Sie das hoffnungsfroh?

Baake: Ich war nach meinem Ausscheiden aus dem Bundeswirtschaftsministerium mehr als zwei Jahre im Ausland. Als ich im Sommer 2020 zurückkam, habe ich zwei große Veränderungen festgestellt, die dem Klimathema Schwung verleihen. Die erste geht von der jungen Generation aus, die erkannt hat, dass es um ihre ureigene Zukunft geht. Diejenigen, die gestern und heute mit Fridays For Future auf die Straße gehen, werden morgen und übermorgen ins Berufsleben starten und dort das Denken und Handeln verändern. Die zweite Veränderung betrifft die international tätigen Unternehmen. Die Finanzindustrie und Investoren fragen die Unternehmen nach den Klimarisiken in ihren Geschäftsmodellen. Auch wenn es zurzeit noch viel Greenwashing gibt, viele Großunternehmen haben ernsthaft begonnen, Strategien für Klimaneutralität zu entwickeln.