Schluss mit den „Ja, aber“-Tiraden

Die gebürtige Gießenerin kam 1995 zum Studium des Bauingenieurwesens an die Uni Stuttgart und kehrte – nach zwei Jahren in den USA als Tragwerksplanerin – für ihre Promotion im Bereich Leichtbau dorthin zurück. Bei der Bilfinger Berger AG leitete sie anschließend ein Forschungsprojekt zum ressourceneffizienten Bauen – Untertitel: „Warum ist die Baubranche nicht innovativer?“ Spätestens in dieser Zeit entwickelte sie eine Abneigung gegenüber Sätzen wie „Das haben wir noch nie so gemacht“ oder „Das haben wir schon immer so gemacht“. Zur Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen – DGNB  e.V. stieß sie gleich bei deren Gründung 2009. Deren Ziel ist es ihr zufolge, „Nachhaltigkeit nicht neu zu erfinden, aber endlich mal zu definieren“. Seit 2010 ist sie als Geschäftsführende Vorständin unter anderem für die inhaltliche Ausrichtung der DGNB zuständig.

Frau Lemaitre, Sie haben sich schon 2008 mit der Frage beschäftigt, warum sich die Baubranche so langsam bewegt. Seit der jüngsten Flutkatastrophe ist der Klimawandel in Deutschland wieder in aller Munde. Dr. Mathis Wackernagel, der Präsident des Global Footprint Networks, sagte auf einem unserer Dialoge, wir hätten die Möglichkeit, die Welt zu entwickeln, entweder per Design oder per Desaster. Wir haben den Eindruck: Das Desaster hat Vorrang. Wie sehen Sie das?

Lemaitre: Ich sehe bei uns ein Mentalitätsproblem. Wir sind eine Gesellschaft von Bedenkenträgern. Da weiß jeder etwas besser, da wird alles hinterfragt. Bei der Nachhaltigkeit und beim Klimaschutz ist es unser liebster Sport, ständig das Rad neu erfinden zu wollen. Ich weiß nicht, wie viele Kriterienlisten ich mir schon habe ansehen müssen, seitdem ich bei der DGNB bin. Und es wird immer schlimmer, es kommen immer neue Definitionen, neue Buzzwords. Das führt zu einer Ermüdung, weil die Leute damit nicht umgehen können, weil sie es nicht verstehen. Vor drei Jahren bin ich wirklich erschrocken, als ein Architekt bei einer Veranstaltung zu mir sagte, die DNGB und Nachhaltigkeit seien voll super, das habe er früher auch gemacht, aber jetzt nicht mehr. Jetzt mache er BIM. Wir brauchen eine Kultur des positiven Annehmens und Handelns, wir müssen Gutes anerkennen, ausprobieren und ausbauen, jenseits von Businessmodellen und Egofragen. Dazu braucht es Mut zur Einfachheit.

Zurück zur Einfachheit – das gefällt uns. Warum agiert das deutsche Ingenieurswesen so komplex und kleinkariert bis ins letzte Detail?

Lemaitre: Unser Bauen ist sehr stark geprägt durch den Slogan „Yes we can“. In der technischen Detailverliebtheit fühlt sich der Ingenieur kompetent und sicher. Es bräuchte eine andere Denke, dem Bauherrn zu sagen: Wir bauen das nicht, wir reißen nicht ab, wir sanieren und bauen weniger. Mittlerweile herrscht immer mehr ein Zielkonflikt zwischen dem, wo wir hinmüssten und dem, wo wir in unserer Technikgläubigkeit unterwegs sind.

Können Sie im internationalen Vergleich Beispiele nennen, die zeigen, wie es besser laufen kann?

Lemaitre: In Nordeuropa ist Skandinavien federführend – durch die Wiederentdeckung des Materials Holz und durch eine menschenbezogene Architektur und Stadtgestaltung. Dänemark geht mit gutem Beispiel vorneweg. Was die Dänen tun, ist von Einfachheit geprägt, aber auch von Geradlinigkeit. Bei ihnen sieht man, was möglich ist, wenn man nur möchte. Ich finde die Ver-McDonaldisierung der Welt sehr schlimm; wenn man sich Nachtaufnahmen anschaut und gar nicht mehr weiß, ob das jetzt Berlin, New York, Hongkong oder São Paulo ist. Das sind ganz andere Klimazonen und wir können schlechte, unpassende Einheitsarchitektur nur noch mit Energie heilen. Da kommen wir in eine Negativspirale, die wahnsinnig schwer zu durchbrechen ist. Es ist nicht modern, wenn Städte überall auf der Welt gleich aussehen. Wir sprechen auch nie über Fehler. Darüber, was hinterher aus den tollen Renderings geworden ist. Unser Anspruch als DGNB ist es, mit einer gewissen Ruhe, aber auch ehrlich zu sagen: Natürlich dürfen wir Fehler machen; wir lernen ja auch aus ihnen. Aber wir dürfen nicht vergessen, welche Verantwortung wir international haben.

Der Baubranche scheint es an Diversität zu fehlen. Kann die DGBN über ihr riesengroßes Netzwerk neue Impulse setzen?

Lemaitre: Das Gebäude ist im Grunde die ultimative Sektorenkopplung für die Klimaziele. Da ist die Finanzbranche dabei – Immobilien sind das Investmentgut Nummer eins und Deutschland auf Platz vier im globalen Immobilienmarkt. Sprich: Hier wird investiert und eine gute Baukultur und Qualität sind interessant für Investoren. Dazu geht es im Industriesektor um Baumaterialen und CO2-Emissionen aus deren Herstellung und im Gebäudesektor um den Betrieb. Wir haben zudem das Thema Mobilität und Mobilitätswende, die nur mit der gebauten Umwelt zusammen zu denken ist. Es ist also wahnsinnig wichtig, über quantifizierbare Ziele zu sprechen. Das funktioniert sehr gut in der diversen Welt unserer 1400 Mitgliedsunternehmen, darunter Banken, Ein-Mann-Architekturbüros, große Konzerne, Universitäten und Städte. Da ist alles dabei.

Die Industrie auch?

Lemaitre: Ja, die Industrie auch, beispielsweise fast alle deutschen Automobilhersteller. Ein in Stuttgart ansässiger Konzern ist sehr engagiert im DGNB-Zertifizieren. Wir bringen alle an einen Tisch. Das müssen wir noch viel mehr einfordern. Die Themen sind viel zu wichtig, als dass wir sie nicht messen. Da sind Unternehmenspolitik oder sonstige Rahmenbedingungen zweitrangig. Und wir müssen mal aufhören mit diesen ganzen Marketingaussagen. Wenn Sie auf Webseiten vieler Unternehmen gehen, denken Sie, Sie sind bei einer Umweltorganisation gelandet. Aber es gibt dieses schöne Zitat: Wenn alle die Welt retten, wer macht sie dann eigentlich gerade kaputt? Selbstaussagen sind nicht mehr gut genug. An dieser Stelle müssen wir zum kritischen Nachfragen zu konkreten Ergebnissen des angeblich Geleisteten kommen.

Den Begriff der Sektorenkopplung hören wir häufig. Am Ende bleiben die Sektoren trotzdem getrennt und jeder hält sich nur in seinem Umfeld auf. Wie brechen wir das auf?

Lemaitre: Ich finde es verblüffend, dass es in anderen Bereichen nicht so eine Organisation wie die DGNB gibt und stattdessen nur Lobbyverbände, die gut darin sind, zu identifizieren, an wem es liegt: meistens jemand, der nicht im Raum ist, also die Politik oder andere Sektoren. Unsere Philosophie ist es, transparent zu machen, wer eigentlich was liefern muss. Der Architekt muss kein Bauökologe oder Schadstoffexperte werden, aber er muss sagen, welche Bauprodukte er braucht, damit der Hersteller weiß, was er zu entwickeln hat. Es geht darum, die Sprache des anderen zu verstehen, damit wir alle das Gleiche meinen. Interdisziplinarität findet immer nur projektspezifisch ein bisschen statt. Dabei wäre das eigentlich eine größere gesellschaftliche Aufgabe.  

Lassen sich Nachhaltigkeit und Naturschutz auf der einen und der Wirtschaftsfaktor auf der anderen Seite überhaupt in Einklang bringen oder ist nicht am Ende des Tages alles, was die Baubranche macht, kontraproduktiv für die Natur?

Lemaitre: Die EU-Taxonomie hat die Immobilienbranche überrascht und in Aufregung versetzt. Durch sie kommt ein immenser Druck, Auskunft zu geben über Themen, die heute nicht rein wirtschaftlich in Euro zu messen sind. Aber es gab schon im Paris-Abkommen von 2015 einen Absatz zu Sustainable Finance. Was in Brüssel zuletzt passiert ist, war alles mit Ansage und die Branche hätte es schon früher ernst nehmen sollen. Natürlich lässt sich nicht so einfach sagen, Umweltschutz lohnt sich. Es geht aber inzwischen viel stärker um Risikominimierung als früher. Ich durfte bei den vergangenen drei UN-Klimakonferenzen mit dabei sein und Kattowitz 2018 war die erste, auf der die Versicherungsbranche offensiv auftrat und sagte: Seid ihr eigentlich irre? Wisst ihr denn nicht, was uns die Umweltschäden heute schon kosten? Wer soll das denn alles erst in Zukunft bezahlen? Durch den Finanzsektor entsteht ein großer Schub und ich finde das gut.

Worin sehen Sie im Gebäudebereich die größten Herausforderungen für die Umsetzung der Green-Deal-Ziele?

Lemaitre: Laut einer Studie, die wir dazu gemacht haben, im Dateninformationsmanagement. Es gibt keine intransparentere Branche als die Baubranche. Wir brauchen aber Transparenz, Datenqualität und Monitoring, gerade auch für die Ertüchtigung des Bestands. Planungskompetenz ist ebenfalls wichtig. Leider muss man kritisch anmerken, dass die Politik mit ihren maßnahmengetriebenen Vorgaben in der Gesetzgebung oftmals keine große Hilfe war und Entscheidungen in Sackgassen führten. Das haben wir in Deutschland bei der Gebäudedämmung gesehen, wo wir irgendwann feststellten, dass noch mehr Dämmung und noch mehr Dämmung gar nicht so viel bringt und dass die Dämmung, die wir da so liebevoll aufgeklebt haben, praktisch Sondermüll ist.

Wie gehen Sie mit Widerständen innerhalb der Baubranche um?

Lemaitre: Wenn ich dafür doch nur eine Lösung hätte… Wir sind mittlerweile dazu übergegangen, den Raum für Ausreden zu schließen. Sie glauben gar nicht, wie viele „Ja, aber“-Tiraden ich mir anhören muss. Denen muss man mit ganz konkreten Lösungen begegnen. „Ja, aber“ gilt nicht mehr.