Allianzen schmieden und Anwendungen erforschen

Interview mit Dr. Christian Herzog, Geschäftsführer bw-i

„Tech driven and digital enthusiast“ – diese Selbstbeschreibung ziert das LinkedIn-Profil von Dr. Christian Herzog, der mehr als zehn Jahre lang bei der Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie GmbH tätig war – die meiste Zeit als Head of Division Digital Business/Start-ups. In dieser Funktion war er Gründer des Business-Netzwerks Start Alliance Berlin. Seit August 2020 ist er Geschäftsführer der Baden-Württemberg International (bw-i) GmbH, dem Kompetenzzentrum des Landes zur Internationalisierung von Wirtschaft und Wissenschaft. Dr. Christian Herzog studierte Marketing, Personal, Organisationspsychologie und Wirtschaftswissenschaften in Berlin und Potsdam und arbeitete in unterschiedlichen Funktionen für die Autovermietungen Enterprise-rent-a-car und Hertz.

Herr Herzog, was muss in Europa, Deutschland und Baden-Württemberg geschehen, damit wir erfolgreich bleiben?

Herzog: Das Thema Technologie muss ganz nach oben auf die Agenda. Wir haben in Deutschland und Europa in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren zu viel verschlafen, wir haben zwar Vorreiterrollen entwickelt, sie aber nicht eingenommen. Die letzte disruptive Erfindung aus Deutschland war Ende der 90er-Jahre der MP3-Player. Seitdem kam nichts mehr. Wir wissen, wie wir Dinge perfektionieren, aber wenn es um technologische Entwicklungen geht, versuchen wir die Valleys zu kopieren, statt sie zu kapieren. Wenn wir in Baden-Württemberg, Deutschland und Europa wirklich vorankommen wollen, müssen wir von denen lernen, die schnell in die Märkte eintreten und sie erobern. Das beste Beispiel sind die erfolgreichen E-Commerce-Plattformen. Nicht eine davon ist Made in Germany und nicht mal Made in Europe.

Liegt das nicht eher am Service als an der Technologie? Ist nicht eine Kombination aus beidem wichtig? 

Herzog: Das eine bedingt das andere. Ich halte Deutschland und Baden-Württemberg für sehr serviceorientiert, aber bis wir dazu kommen, über Technologien einen Service anzubieten, dauert es zu lang. Da müssen wir mehr Geschwindigkeit aufnehmen – gemeinschaftlich. Der Gesetzgeber muss die Rahmenbedingungen schaffen, wir müssen Anbindungs- und Testräume zur Verfügung stellen und wir brauchen eine First-Mover-Mentalität wie bei Start-ups. Das Trial-and-Error-Prinzip, also einfach mal etwas auszuprobieren ohne absolute Sicherheit, ist hierzulande nicht sehr verbreitet. Wir haben zu große Angst vor dem Scheitern, wir sind nicht offen genug. Es ist nicht so, dass wir keine Technologien hätten, aber wir bringen sie nicht zur Anwendung. Da ist Israel Weltmeister. Man muss sich nur anschauen, wie schnell dort Technologien an den Markt kommen, wie schnell die Firmen internationalisieren und expandieren. Daran müssten wir uns orientieren. Denn wenn wir es nicht tun, kommen wir ins Hintertreffen.  

Wen sehen Sie am meisten in der Pflicht? Muss die Politik mehr fördern, die Wirtschaft mehr investieren? Forschung und Entwicklung sind in Baden-Württemberg ja sehr stark.

Herzog: Das stimmt, wir haben eine exzellente Wissenschaftslandschaft. Das KIT in Karlsruhe und das Cyber Valley besitzen weltweiten Ruhm im Bereich KI, wir haben die Universitäten Heidelberg und Tübingen mit starkem Fokus auf die Themen Gesundheit und Medizin.  Wir sind in vielen Bereichen Spitzenklasse und haben auch eine sehr enge Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft. Aber wir investieren hauptsächlich in Grundlagen- und Entwicklungsforschung. Die größte Hürde bleibt die Transformation zur Anwendung. Uns fehlt die Umsetzungsstrategie – und das gilt wohlgemerkt nicht für Baden-Württemberg allein, sondern für ganz Deutschland. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vor vier Jahren habe ich auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas erlebt, wie Daimler sein Modell für autonomes Fahren vorstellte. Warum dort, warum nicht bei uns? Weil uns die Testräume fehlen! Erst jetzt, vier Jahre später, sind wir soweit, dass in Deutschland die ersten autonomen Autos testweise fahren dürfen.  

Der deutsche Unternehmer und Digitalberater Philipp Depiereux hat ein Buch geschrieben, dessen Titel eine Forderung ist: „Werdet Weltmutführer“. Wie kann das aus Ihrer Sicht gelingen?

Herzog: Durch kombinierten Mut in Wissenschaft, Wirtschaft und der Politik. Ich denke an den Bereich Innovative Beschaffung. Wenn Kommunen und Gemeinden ihre Verwaltungen neu ausstatten, setzen sie oft auf Sicherheit statt auf Innovation, also auf etablierte statt auf junge Unternehmen. Da würde ich mir mehr Mut wünschen. Das klappt bisher weder auf kommunaler Ebene noch auf regionaler, Landes- oder Bundesebene. Es gibt erste Schritte in die richtige Richtung, die sind aber viel zu zaghaft.

Gibt es in Deutschland starke regionale Unterschiede? Was können Sie uns aus dem als hip geltenden Berlin berichten, wo Sie mehr als zehn Jahre lang in der Wirtschaftsförderung tätig waren?

Herzog: Die Berliner mögen es mir verzeihen, aber die Stadt lebt von ihrem Image. Das ist gut vermarktet, aber es fehlt vielfach an Substanz. Ich habe in Baden-Württemberg Demut gelernt. In Berlin glaubt man, der Nabel der Welt zu sein, der Hub für alles Digitale und Innovative. Baden-Württemberg ist jetzt schon eine der Innovationsschmieden in Europa, kommt aber – jetzt mögen mir die Badener verzeihen – zuweilen sehr schwäbisch und leise daher. Das muss nicht sein. Wir haben die großen Player, eine Unmenge an Familienunternehmen und eine Start-up-Szene, die sich anders als die in Berlin nicht viel Venture Capital in London oder bei Amerikanern und Chinesen suchen müsste. Der New Yorker Investor will am liebsten einmal um den Block laufen und dann ein Geschäft tätigen. So ähnlich wäre das in Baden-Württemberg möglich, wir müssen nur das Matching hinkriegen.  

bw-i bemüht sich um die Internationalisierung von Unternehmen und Institutionen im Land. Wie hat sich Ihre Arbeit im vergangenen Jahr verändert?

Herzog: Baden-Württemberg ist deutscher Rekordmeister beim Export, der Bedarf an internationalen Kontakten ist hoch. Corona hat uns einen Knüppel zwischen die Beine geworfen. Was früher über Delegationsreisen und Auslandsrepräsentanzen funktionierte, war plötzlich weitgehend nur noch auf digitaler Ebene möglich. Das war ein großer Schritt für uns alle, und der Start war holprig, nicht jeder Mittelständler war darauf vorbereitet, online zu pitchen. Aber es ist etwas eingetreten, von dem ich vor zwei Jahren niemals gedacht hätte, dass es ohne Face-to-Face-Gespräche möglich wäre: Wir haben über virtuelle Konferenzen Kontakte aufgebaut, Leeds generiert und echte Kooperationen geschlossen, jüngst etwa in einer KI-Konferenz mit Ontario, Montreal und Pittsburgh. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Zukunft hybrid sein wird. Man wird noch reisen, aber kürzer im Ausland sein und vieles vorher virtuell vorbereiten. Wir werden uns ein Studio einrichten für Firmen, denen die technischen Möglichkeiten fehlen. Die Konzerne brauchen uns dafür nicht, der Mittelstand schon, wenn er niemanden vor Ort hat. In Nanjing in China laufen ja inzwischen wieder Messen wie vor der Pandemie. Und weil wir dort eine Niederlassung haben, konnten unsere Vertreter Erstkontakte herstellen, aus denen konkrete Geschäfte entstanden sind. Unsere Firmen waren zwar nur virtuell dabei, aber es hat dennoch Eindruck gemacht, weil die Chinesen natürlich nicht mit Europäern gerechnet haben.  

Der Raum, den sie einrichten, damit Unternehmen für virtuelle Verhandlungen gewappnet sind, bringt uns zu einer Frage: Hängen wir in Deutschland bei der Digitalisierung zu weit hinterher?

Herzog: Wir klagen auf hohem Niveau. Es ist natürlich ein emotionales Thema, wenn wir etwa über die Digitalisierung von Schulen sprechen. Aber wir sollten uns weniger mit aktuellen Entwicklungen und lieber mit der Zukunft beschäftigen, also mit KI und anderen Querschnittstechnologien, die mit der Digitalisierung zusammenhängen, in viele Wissenschafts- und Wirtschaftszweige hineinreichen und unser tägliches Leben betreffen. Technologisch sind wir in vielen Bereichen sehr weit und anderen voraus, zum Beispiel bei der smarten Produktion. Aber wir müssen aufpassen, dass wir den Vorsprung gegenüber China und den USA halten und ausbauen, denn das wird die nächste Revolution sein. Da entscheidet sich, ob Deutschland weiter vorne mitspielt oder nicht. Allein die Region Shanghai etwa investiert gerade Milliarden im Bereich KI.   Wir stecken in Deutschland nur einen Bruchteil dieser Summe in KI-Projekte, da sollten wir dringend nachjustieren.

Die Pandemie hat auch die Automobilbranche und ihre Zulieferer hart getroffen, die in Baden-Württemberg sehr stark sind. Wie unterstützen Sie da und welche Potenziale gilt es aufzubauen?

Herzog: Das ist eine unserer größten Herausforderungen. Die Automobilbranche ist einem immer brutaleren Wandel unterworfen. Dass sich Tesla in Deutschland niederlässt, ist ein direkter Angriff auf unsere traditionellen Hersteller. Aber ich sehe in dem Sektor auch eine große Chance, weil wir extrem breit aufgestellt sind und mit der bestehenden Industrie einen Schritt weitergehen können. Nirgendwo außerhalb Baden-Württembergs wird das Thema synthetische Kraftstoffe vorangetrieben. Da tadelt das Land den Bund. Wer sagt denn, dass der Batterieantrieb die absolute Zukunft sein wird? Bei uns gibt es unheimlich spannende Patente mit einer viel besseren Nachhaltigkeitsbilanz als die Batterie. Synthetische Kraftstoffe lassen sich auch in normalen Diesel- oder Otto-Motoren verarbeiten. Und das ist nur eine von mehreren Möglichkeiten. Wir könnten uns Tesla zum Vorbild nehmen und bei der Infrastruktur Fakten schaffen. Tesla ist ja vor allem deswegen so schnell gewachsen, weil sie erst die Ladesäulen gebaut und dann die Autos reingebracht haben. Wir haben in Baden-Württemberg schon vor Jahren eine Agentur für neue Mobilitätslösungen gegründet, die e-mobil BW mit Franz Loogen an der Spitze, die die Transformation in der Branche aktiv und technologieoffen begleitet. Wenn wir das weiter vernünftig vorantreiben und die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen, werden wir von Erfolg gekrönt sein.    

Wie stehen Sie zum europäischen Green Deal? Man hat den Eindruck, dass sich hinter ihm ein toller Slogan verbirgt, wir es aber nicht hinkriegen, schnell und geeint zu agieren.

Herzog: Corona hat auch den Green Deal gebremst. Aber es stimmt schon. Um Einigkeit zu erzielen, ist noch ein ganz dickes Brett zu bohren. Wir kriegen das nicht mal innerhalb des föderalen Systems in Deutschland hin. Und in Europa gibt es noch viel mehr Stakeholder.      

Was halten Sie von Kooperationen mit Österreich und der Schweiz? Die Themenreise richtet sich explizit an die gesamte DACH-Region. Wir wollen Grenzen einreißen, weil wir glauben, dass zum Beispiel Smart-City-Themen aus Basel auf Stuttgart übertragbar sind.

Herzog: Da haben Sie in mir den größten Fan überhaupt. Im Dreiklang der Länder haben wir einen relativ großen Markt mit guten Ideen. Start-ups schielen im Gegensatz zum Mittelstand immer gleich in Richtung USA und Asien. Das ändert sich interessanterweise häufig dann, wenn sie mit Corporates zusammenarbeiten und merken, wie spannend etwa der Hub Wien sein kann mit seinem neuen Smart-City-Stadtteil Aspern. Ich würde beim Grenzen einreißen als Baden-Württemberger noch Frankreich einbeziehen. Es existieren inzwischen schon gemeinschaftliche Wirtschafts- und Testräume.      

Das heißt, Sie zielen mit bw-i aktiv auf solche Allianzen ab?

Herzog: Absolut. Wir sind gerade dabei, eine Fachallianz im Bereich KI aufzubauen, um voneinander zu lernen und gemeinsam etwas aufzubauen. Solche Kooperationen, getrieben von konkreten Ideen, sind komplett unterschätzt.