Wie ein freundlicher Tsunami

Der 1958 in Schwäbisch Gmünd geborene Michael Braungart studierte Chemie und Verfahrenstechnik. In den frühen 80er-Jahren engagierte er sich bei Greenpeace. Sein stetes Bestreben war und ist es, Lösungen für komplexe Umweltprobleme zu entwickeln. Er ist Co-Erfinder des Cradle-to-Cradle-Prinzips und ein international anerkannter und mehrfach ausgezeichneter Experte. Braungart unterrichtet an mehreren Hochschulen in Deutschland und den Niederlanden, lehrte aber auch schon in China und den USA. An der Uni Lüneburg hat er die Professur für Öko-Design inne.

Herr Braungart, Cradle to Cradle propagiert eine konsequente Kreislaufwirtschaft, indem es vorsieht, dass Produkte nur aus Materialien bestehen sollen, die nach der Nutzung biologisch abgebaut oder sortenrein getrennt demontiert werden und somit wiederverwertet werden können. Ist das Ihre Lösung gegen den Klimawandel?

Braungart: Zunächst einmal: Die Klimaziele sind völlig falsch. Das 1,5-Grad-Ziel wird unseren Planeten nicht retten, es wird ihn nur zwei Generationen später zerstören. Das Polareis schmilzt jetzt, die Gletscher verschwinden jetzt, die Permafrostböden tauen jetzt auf. Ich habe gerade mit Menschen in Chile zu tun. Dort ist überhaupt nur noch ein Fünftel der Gletscher von vor 20 Jahren übrig. Wir brauchen ganz andere Klimaziele. Wir müssen erreichen, dass im Jahr 2100 wieder die Gehalte an Treibhausgasen in der Atmosphäre sind, die wir 1900 hatten. Wir müssen diese aktiv zurückholen. Daher ist es traurig, wenn Städte wie Stuttgart klimaneutral sein wollen. Ein Baum ist auch nicht klimaneutral, ein Baum ist klimapositiv. Wir müssen genauso klimapositiv agieren. Wir müssen lernen, nützlich zu sein, gut zu sein, nicht nur weniger schädlich. Das ist die Grundbotschaft von Cradle to Cradle: Weniger schlecht ist nicht gut. Ich schütze die Umwelt nicht, wenn ich sie etwas langsamer zerstöre. Das wäre so, wie wenn ich sagen würde, ich schütze mein Kind, weil ich es statt zehnmal nur fünfmal schlage.

Läuft es anderswo besser als in Deutschland und Europa? 

Braungart: Echtes Kreislaufdenken gibt es nur in Asien. Ein einfaches Beispiel: In Süddeutschland wurde Demeter erfunden, biologischer Landbau. Aber es gibt kein Biosiegel, das erlaubt, eigene Nährstoffe wieder einzusetzen. Dadurch verliert selbst Demeter-Landbau bis zu zwei Tonnen Boden pro Hektar und Jahr. In China, wo ich zwei Jahre gearbeitet habe, ist es auf dem Land bis heute so, dass bei einer Essenseinladung erwartet wird, dass man solange bleibt, bis man die Toilette aufgesucht hat. Es gilt als unhöflich zu gehen und die Nährstoffe mitzunehmen.  

Das heißt, die Lösung liegt in Asien?

Braungart: Wir müssen die Kenntnisse und Einstellungen des gesamten Planeten zusammenbringen. Wir brauchen asiatisches Kreislaufdenken, südliche Lebensfreude, europäisches Problembewusstsein und amerikanischen Handlungswillen. In Europa meinen wir, wir hätten schon etwas getan, wenn wir darüber diskutiert haben. Soll ich Ihnen meinen Lieblingswitz erzählen? Treffen sich zwei Psychologen. Der eine fragt: „Kannst du mir erklären, wie es zum Bahnhof geht?“ Der andere antwortet: „Tut mir leid, das weiß ich nicht. Aber gut, dass wir darüber geredet haben.“ Das Problembewusstsein in Europa ist weit verbreitet, das Lösungsinteresse nicht. An den Universitäten forschen sie und meinen, dass sie dadurch schon etwas getan haben. Schauen Sie sich die Polarstern-Expeditionen an. Da schicken die für 140 Millionen Euro  einen Eisbrecher los, der sich irgendwann im Polareis festfrieren soll, um den Treibhausgaseffekt zu untersuchen. Das ließe sich mit ein paar Drohnen und Markierungen viel eleganter, schneller und genauer machen. Die verheerende Botschaft ist: Man muss nicht handeln, man muss zuerst noch forschen.

Auf Messen der Bau- und Immobilienbranche hört man häufig, dass es nicht ausreicht, zirkulär zu bauen. Man müsse die Thematik ganzheitlich betrachten. 

Braungart: Zirkuläres Denken ist lineares Denken im Kreis. Der Effekt ist oft verheerend. In Deutschland mischen die Leute giftigste Flugaschen in Baustoffe und kriegen dafür Förderung für zirkuläres Bauen. Sie machen Recyclingbeton aus Beton, der nie für Recycling entwickelt wurde, mit Additiven, Porenbildnern, Abbindeverzögerern und Schalhilfsmitteln, die das Ganze giftig machen. Das Zirkuläre an sich ist kein Wert. Wenn ich das Falsche perfekt mache, ist es nur perfekt falsch. Darum ist die Frage, was das Richtige ist. Und die Antwort lautet: Nicht Effizienz, sondern Effektivität. Mir geht es um Innovation, Qualität und Schönheit. Es ist noch kein Mercedes zu einem Mercedes recycelt worden. Es ist immer nur primitiver Betonstahl daraus gemacht worden. Alles Chrom, Nickel, Kobalt, Mangan, Wolfram, Antimon, Wismut, Molybdän, Titan ist nachher im Betonstahl verloren. Und das nennen wir zirkuläres Bauen? Toll! Zirkulares Geschwafel ist das. Wir lügen uns etwas vor.

Wie kann sich die Bau- und Immobilienwirtschaft stattdessen der Nachhaltigkeit verschreiben? 

Braungart: Sie soll gar nicht nachhaltig werden. Nachhaltigkeit ist das falsche Konzept für die Technosphäre. Die ist wichtig für die Forstwirtschaft und die Biologie. Ich will, dass es noch in 100 Jahren Löwen und Tiger und Elefanten und Giraffen und Nashörner gibt. Das ist Nachhaltigkeit. Ich will aber nicht in 100 Jahren noch die gleiche Waschmaschine haben oder den gleichen Bürostuhl. Innovation ist nie nachhaltig. Das Mobiltelefon war nicht nachhaltig für die Produzenten stationärer Telefone.  

Wenn es nicht um Nachhaltigkeit gehen sollte, worum dann?   

Braungart: Als Erstes darum, dass wir gesunde Gebäude bauen. Wir verbringen 80 Prozent unserer Zeit in Innenräumen und haben dort im Moment eine Luftqualität, die drei- bis achtmal schlechter ist als schlechte städtische Außenluft. Ich habe mehrere Kindergärten einer kleineren Stadt untersucht, da überschreitet die Feinstaubbelastung innen die Grenzwerte für draußen. Und zwar drastisch. Asthma ist die häufigste Kinderkrankheit. Gebäude müssen muttermilchgeeignet sein. Das hört sich komisch an, aber ein Drittel der mehr als 2800 Chemikalien, die in der Muttermilch zu finden sind, entspringen dem Baubereich. Das Bauen ist der wichtigste Einzelfaktor für die Zerstörung des Planeten und er kann genauso der wichtigste Einzelfaktor für seine Erhaltung sein. Gebäude sollen Lebensraum für andere Lebenswesen schaffen und ihnen nicht Flächen wegnehmen. Ich will nützliche Gebäude, die die Luft und das Wasser reinigen, Gebäude wie Bäume, vom Bauhaus zum Baumhaus gewissermaßen. Wir haben beispielsweise mit einem holländischen Unternehmen Teppichböden entwickelt, die nicht nur nicht giftig sind, sondern aktiv Feinstaub an sich binden.

Welche Materialien braucht es in Zukunft, damit Gebäude sowohl den von Ihnen gewünschten positiven Effekt haben als auch den Aspekten der Designqualität gerecht werden?  

Braungart: Fangen wir erst einmal damit an, was man nicht mehr will: alles, was gesundheitsschädlich ist. PVC zum Beispiel, das ist im Übrigen auch für Verpackungen das falsche Plastik. Allein wegen vier Prozent PVC in Verpackungen kann man daraus kein Öl machen, man kann es nicht mal verbrennen, ohne giftigste Emissionen zu verursachen. Auch seltene Materialien sollten nicht eingesetzt werden, wo es – nicht unbedingt nötig ist – wie bei Kupfer in der Elektromobilität. Stattdessen müssen wir nützliche Materialien nutzen. Stromleitungen in Gebäuden funktionieren auch mit Aluminium. Wichtig ist auch, Materialien als Monomaterialien zu verwenden, um sie später rückgewinnen zu können, entweder in einem biologischen oder in einem technischen Kreislauf. Wir sind das einzige Lebewesen, das Abfall macht. Die Biomasse der Ameisen ist viel größer als die des Menschen. Ameisen produzieren aber kein Umweltproblem. Sie sind nützlich.

Sie betonen außerdem die Bedeutung von modularem, also veränderbarem Bauen. Gibt es schon Gebäude, die all das umsetzen? 

Braungart: Aber ja doch, mehrere. Und man muss die Pioniere feiern, allen voran das Rathaus in Venlo in den Niederlanden. Das ist noch dazu ein Umbau – das muss man extra betonen, weil es wichtig ist, den Fokus vor allem auf die Renovierung von Gebäuden zu legen. Im Rathaus Venlo ist die Luft deutlich besser als draußen, das Licht ist gesund, es gibt keine ständige Belastung durch Lärm. Durch Lärm verlieren wir in Deutschland fast zwei Jahre Lebenserwartung, durch Feinstaub viereinhalb. Der Krankenstand der 1200 Beschäftigen in Venlo ist mehr als 20 Prozent niedriger als anderswo. Das ist statistisch relevant, das spart direkt Geld ein.

Ist da allein die Bau- und Immobilienwirtschaft in der Verantwortung oder sehen Sie eher die Politik im Zugzwang?   

Braungart: Wir müssen gar nicht über Pflicht und Verantwortung sprechen. Junge Menschen sind mein Role Model. Denen ist Anerkennung in ihrem sozialen Netzwerk genauso wichtig wie Geld. Die wollen sich nicht an Schweinereien beteiligen, die wollen auf sich stolz sein. Genau wie zum Beispiel die Immobilienentwickler Groß & Partner aus Frankfurt, die viel mit Cradle to Cradle arbeiten – auch, weil sie junge Menschen davon überzeugen wollen, bei ihnen zu arbeiten. Es macht mir Hoffnung, dass in vielen Familienunternehmen die Nachfolge ansteht und Menschen zum Zug kommen, die sich sagen: Warum soll ich den Umsatz verdoppeln, wenn die Welt zugrunde geht? Selbst eine Bettina Würth sagt das und baut Würth komplett nach Cradle to Cradle um. Und es braucht nicht nur das neue Denken, es braucht auch neue Geschäftsmodelle. Wenn die Firma Schüco keine Fenster mehr verkauft, sondern stattdessen den Service „30 Jahre Durchgucken“, wird sie jedes Jahr reicher, weil sie nicht 70.000 Tonnen Aluminium verkauft, sondern nur die Nutzung. Die Firma Novo-Tech aus Aschersleben verkauft keine Terrassenfließen mehr, die verkaufen das Nutzungsrecht.  Und dank Drees & Sommer ist es jetzt möglich, die Fassade aus dem Gebäudewert herauszurechnen. Dadurch kann auch die Fassade eine 30-jährige Dienstleistung sein.

Sind Sie tatsächlich so zuversichtlich? Wir haben das Gefühl, dass vieles noch falsch läuft in der Branche und der Gesellschaft. Günstig ist häufig attraktiver als gut.

Braungart: Wir stehen bei allem noch ziemlich am Anfang und das Umdenken ist schwierig, weil in Deutschland Eigentum so lange Religion war. Die Umweltdiskussion hat auch dazu beigetragen, dass Menschen raffgierig und feindselig werden. Sie hat das Gegenteil dessen erreicht, was sie erreichen wollte. Wenn ständig von Überbevölkerung die Rede ist, kann man den Schluss ziehen, dass es besser wäre, man wäre gar nicht da. Dann sagen sich die Menschen: Bevor es ein anderer nimmt, nehme ich es lieber. 95 Prozent der Menschen benehmen sich barbarisch, wenn sie Angst haben. Aber 95 Prozent der Menschen wollen gut sein, wenn man ihnen die Chance gibt. Die junge Generation macht mich absolut optimistisch. Alle führenden Designschulen der Welt lehren jetzt Cradle to Cradle: Schwäbisch Gmünd, Eindhoven, Mailand. Das ist beeindruckend, weil so aus Behübschern wirkliche Gestalter werden. Architekten lieben Cradle to Cradle, weil es die Architektur viel wichtiger macht und es nicht nur um ein Investment mit bestimmten Raumgrenzen geht. Cradle to Cradle ist wie ein freundlicher Tsunami.