489 Einsen mit 21 Nullen bewältigen

Interview mit Ingolf Schröder, Chief Operating Officer der AT&S 

Fast ein Vierteljahrhundert war Ingolf Schröder nach seinem Studium der Materialwissenschaften an der Technischen Universität Berlin in verschiedenen Funktionen für Osram tätig, zuletzt als Senior Vice President Operations & Quality. Das ist auch sein Verantwortungsbereich bei AT&S – neben dem Global Supply Chain Management und Environment, health and safety (EHS). Bei AT&S stieg Schröder im September 2020 als COO ein. Das 1987 gegründete Elektronik-Unternehmen mit Sitz in Leoben (Steiermark) ist ein führender Anbieter von High-End-Leiterplatten und IC-Substraten (Integrated Circuit-Substrate, die als Brücken zwischen Mikrochips und Leiterplatten fungieren). 

D&S: Ingolf, wie bewertest du die aktuelle Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Europas im globalen Vergleich?

Schröder: Grundsätzlich nimmt die EU im Welthandel nach wie vor definitiv eine Spitzenposition ein. Sie hat mit 76 Ländern Handelsabkommen geschlossen. Exporte machen etwa 15 bis 20 Prozent des Gesamteuropa-BIPs – das sind ungefähr 17 Billionen Euro – aus. Damit ist Europa auf Platz zwei hinter China. Unsere Wertschöpfung ist sehr hoch. Das zeigt, wie exportorientiert wir sind und gleichzeitig wie wettbewerbsfähig und gefragt unsere Produkte. Die Frage ist nur: Ist das in Zukunft auch noch so?   

D&S: Wie sieht deine Prognose aus?  

Schröder: Ich glaube tatsächlich, wir werden Schwierigkeiten bekommen, diesen Platz zu behaupten. Europa wächst seit einigen Jahren weniger schnell, vielleicht aufgrund einer Überregulierung. Die USA und China sind deutlich produktiver. Innovations- und Digitalisierungsdefizite sind bei uns klar erkennbar. Die Big-Tech-Unternehmen, die in Europa angesiedelt sind oder aus Europa kommen, kann man an wenigen Händen, wenn nicht sogar an einer Hand abzählen. Die Energiepreise bei uns sind hoch, wir sind abhängig von Rohstoffen, es gibt einen signifikanten demografischen Wandel und Fachkräftemangel in Europa. Und was die Produktionskosten anbelangt: 2019 ist eine Statistik zu den Manufacturing Labour Cost per Hour erhoben worden. Da war Deutschland mit 52 US-Dollar pro Stunde deutlich an der Spitze. Das sind alles Themen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Es braucht eine wirklich abgestimmte europäische Strategie, um entgegenzuwirken. 

D&S: Was sind aus deiner Sicht mögliche Ansatzpunkte?   

Schröder: Es laufen schon diverse Aktivitäten. Der Draghi-Report zeigt mehrere Handlungsfelder auf. Die EU muss dafür sorgen, dass wir Innovationslücken schließen, damit sich mehr Start-ups am Markt etablieren können und das Thema Venture Capital anders aufgesetzt wird. Deutschland hat die meisten Unicorns innerhalb der EU, also Start-ups mit einer Bewertung von über einer Milliarde Euro. Es sind 69. Die USA haben 1613. Das zeigt das Missverhältnis, da gibt es eine Menge an Nachholbedarf. Beim Thema Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit braucht es konkrete und umsetzbare Aktionspläne insbesondere für die energieintensiven Industrien, von denen es in Europa etliche gibt. Aktionspläne für effiziente und erschwingliche Energie. Auch das Thema resiliente Supply Chain ist ein großes für Europa. Und um nochmal auf Big Tech zurückzukommen: Die USA fördern die Industrie mit knapp 280 Milliarden US-Dollar, um ein Umfeld zu schaffen, in dem sich diese Unternehmen ansiedeln und Forschung betreiben können. Südkorea plant in den nächsten zehn Jahren 430 Milliarden [BS1] zur Verfügung zu stellen, davon allein 150 Milliarden für Samsung. In Europa reden wir über 43 Milliarden [BS2] bis 2030. Da liegt viel dazwischen. Gerade Big Tech hat einen hohen Bedarf an Investitionen. 

D&S: Ihr von AT&S habt in den vergangenen Jahren stark in Asien investiert, gerade in neue Produktionsstätten in Malaysia oder China. Ist das ein Signal gegen den Industriestandort Europa?  

Schröder: Die Frage lässt sich nicht klar mit ja oder nein beantworten. Fakt ist auch, dass sich die AT&S in den letzten Jahren ganz bewusst entschieden hat, in den Standort Europa und besonders in den Standort Österreich zu investieren. Wir bauen bis etwa Ende 2025 für weit über 500 Millionen Euro unser Headquarter in ein einzigartiges Werk um, das eine Kombination aus R&D-Standort und Substratfertigung sein wird. Das machen wir, um mittel- und langfristig erfolgreich aus Europa heraus operieren zu können. Wir glauben, dass wir über diese Investition weitere Industrie- und Supply-Chain-Ansiedlungen in Europa fördern können, denn wir sind der einzige IC-Substrat-Hersteller in Europa und diese Kombination aus Entwicklung und Produktion gibt es weltweit auch nicht so oft. Also, dieses Investment ist ein klares Bekenntnis zu Österreich und unser Beitrag zum European Chips Act, der das Ziel hat, die Sicherung der technologischen Souveränität in Europa aufzubauen und nachhaltig voranzutreiben. Ich hoffe, dass auch andere Unternehmen in diesem Technologiefeld entsprechend handeln. Trotzdem muss ich sagen: Es ist nicht leicht, aus Österreich heraus wettbewerbsfähig zu produzieren – eben wegen der sehr, sehr hohen Investitionshürden, Energiepreise und Lohnkosten. Das müssen wir über eine besonders effiziente Prozesssteuerung, hohe Automatisierungsgrade und innovativste Produkte ausgleichen.  

D&S: Welche Innovationen im Bereich Digitalisierung sind für euch der Schlüssel, um in eurem hart umkämpften Marktumfeld wettbewerbsfähig zu bleiben?

Schröder: Wir analysieren und beleuchten die Megatrends sehr intensiv. Die Produkte, die auch AT&S produziert, sind heute im täglichen Leben in allen Bereichen vertreten, in Smartphone, Autos, Computertastaturen … Wie wird sich das in den nächsten Jahren entwickeln? Ein Thema ist Miniaturisierung. Es wird alles immer kleiner, nicht nur in der Struktur und im Package, sondern auch, was die Leiter-Struktur angeht. Man muss mehr Datenmengen über viel kleinere Bereiche transportieren können. Das stellt gigantische Anforderungen an die Produktionsprozesse und lässt sich nicht von heute auf morgen umstellen. Ein ganz großes Thema ist die Energieeffizienz. Wie versorge ich einen Chip mit Energie und wie transportiere ich die Rechenleistung wieder aus dem System in die unter- oder nachgelagerten Bereiche? Da geht es um Einsparungen von wenigen Milliwatt, die sich unglaublich bemerkbar machen, weil der Energiebedarf von Serverfarmen oder großen Anwendungen wie ChatGPT so gigantisch ist. High Frequency ist ein Riesenthama, Heterogeneous Integration auch. Das heißt, man geht weg von monolithischen Chips und hin zu Chiplets, auf denen jeder einzelne Chips unterschiedliche Funktionsbereiche fokussiert. Das sind die großen Trends, die uns bewegen, aber ich möchte gern vielleicht noch einen interessanten Punkt einbringen, um zu zeigen, was es bedeutet, wenn wir über Daten und Datenmengen sprechen.

D&S: Nur zu.  

Schröder: Das globale Datenvolumen hat im vergangenen Jahr 163 Zettabyte umfasst. Und es wächst stark. Man geht davon aus, dass es in vier Jahren 489 Zettabyte sein werden. Das hört sich jetzt vielleicht erstmal weniger an, eine Verdreifachung. Aber wenn ich jetzt sage, Zettabyte ist eine Eins mit 21 Nullen, kann man sich vorstellen, wie gigantisch das Datenvolumen sein wird, das wir bewältigen müssen. Und da ist AT&S natürlich stolz, ein Stück weit dazu beizutragen, dass das gelingt. 

D&S: Im Bereich Klimaschutz verfolgt ihr auch ehrgeizige Ziele. Wie gelingt euch die Balance zwischen Innovation, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit? 

Schröder: Wir haben eine klar verankerte Nachhaltigkeitsstrategie mit gezielten Investitionen, die vernünftig implementiert werden können. Im aktuellen Jahr kommen knapp 74 Prozent unseres gesamten Energiebedarfs aus erneuerbaren Quellen; unser Ziel ist, das bis Ende 2025 auf 80 Prozent zu steigern. Wir haben unseren neuen Produktionsstandort in Malaysia – die größte Investition in unserer Unternehmensgeschichte mit über 1,7 Milliarden Euro – schon in der Planung fossilfrei gedacht. Die Stromversorgung wird dort bis 2030 komplett auf erneuerbare Energie umgestellt. In Österreich sind wir bereits zu etwa 85,1 Prozent CO2-neutral unterwegs und werden das zeitnah auf 100 Prozent hochfahren. Ein anderer großer Aspekt: Wir produzieren sehr, sehr ressourcenintensiv. Wir brauchen sehr viel Wasser, unglaublich viel Strom und alle möglichen Chemikalien. Die Ressourcenrückgewinnung und Recyclingprozesse sind für uns hochinteressant. Wir haben in Österreich ein Pilotprojekt aufgesetzt, das gibt es so in der Welt nicht noch mal. Wir haben es geschafft, eine Recyclinganlage zur Kupferrückgewinnung zu designen. Die läuft jetzt ungefähr seit einem Jahr und wir haben schon knapp 270 Tonnen Kupfer recyclen können, wodurch wir weniger Kupferfolien neu kaufen müssen. In dem Zusammenhang können wir auch Gold zurückgewinnen, oder Palladium, all diese seltenen, teuren Metalle, die wir im Produktionsprozess verwenden. Wir haben Wasserrecyclinganlagen und können bis zu 1,5 Millionen Kubikmeter Wasser pro Jahr recyclen, das zum Teil sauberer ist als das Wasser, das anderswo aus der Leitung kommt. Das sind unsere Qualitätsansprüche an die Reinigungsstandards. Und natürlich versuchen wir immer standortspezifisch weitere Lösungen zu entwickeln, um sie dann skaliert auf globaler Ebene einzusetzen.

D&S: Das hört sich wirklich extrem spannend an. Ingolf, einer von drei Bausteinen beim neext Themen Dialog ist ja neben Process und Places der Bereich People. Euer Hauptsitz ist in Leoben, einer ländlich geprägten Gemeinde etwa eine Stunde von Graz entfernt. Da stellt sich uns die spannende Frage, wie es euch gelingt, langfristig Mitarbeitende an Leoben und AT&S zu binden? 

Schröder: Leoben ist nicht nur schön gelegen, sondern hat auch ein sehr interessantes Umfeld. Das hat sich über viele Jahrzehnte transformiert. Die Stadt war lange eher bergbauorientiert, jetzt dominiert die Industrie. Unsere Belegschaft in Leoben ist sehr breit aufgestellt. Wir haben Menschen aus über 50 Nationen am Standort beschäftigt. Das zeigt, dass wir ein attraktives, internationales Unternehmen sind. Für uns ist es essenziell, die Integration der Menschen und ihrer Familien aktiv zu unterstützen. Und weil Integration über den Zaun der Firma hinausgeht, sind wir mit der Stadt Leoben und den umliegenden Gemeinden im engen Austausch. Wir haben es geschafft, einen internationalen Kindergarten aufzusetzen, das gleiche gilt für englischsprachige Schulen. Über das MINT-Programm in Graz versuchen wir ausländische Mitarbeiter schnell und effizient in die Gesellschaft zu integrieren, was wegen einigen Regularien nicht ganz trivial ist. Wir haben es geschafft, direkt eine Bushaltestelle vors Werk zu platzieren. Dazu setzen wir stark auf Förderung, Vielfältigkeit, Training, Gleichberechtigung und Inklusion, auf die Möglichkeit von Job-Rotation zwischen unseren internationalen Standorten. In unserem Mission-Statement steht: We care about people. Den Menschen im Fokus zu haben, ist mehr als ein Slogan, es ist Teil unserer Kultur. 

D&S: Sehr schön! Wir sind überzeugt, dass es so ein Vorreiter-Unternehmen wie AT&S braucht, um Innovation voranzutreiben. Zum Abschluss vielleicht noch mal kurz zusammengefasst aus deiner Sicht: Wie lautet eure Erfolgsrezeptur für europäische Unternehmen, um langfristig erfolgreich, nachhaltig und global wettbewerbsfähig zu bleiben? 

Schröder: Wichtig ist, Innovation zu erkennen und zu fördern. Wir investieren etwa zehn Prozent unseres Umsatzes in die Entwicklung. Das wird auch so bleiben mit unserem Innovations-R&D-Zentrum in Österreich, in dem wir frühzeitig Megatrends Rechnung tragen und mit innovativen und effizienten Prozessen, neuen Verfahren und neuen Produkten direkt auf unsere Kunden zugehen. Das Thema Nachhaltigkeit ist ganz wesentlich, weil nicht nur wir, sondern auch unsere Kunden und deren Kunden Erwartungen haben. Das ist auch für das Thema Finanzierung durch Banken wichtig, weil die ESG-Aspekte mittlerweile eine große Rolle spielen. Ganz generell ist es wichtig, sich jeden Tag zu hinterfragen. Was kann ich besser machen, wo kann ich effizienter werden? Stillstand ist Rückschritt. Und wenn man mit offenem Visier fährt und sich jeden Tag ein Stück weit selbst challenged, ist das auch für den Standort Europa eine Möglichkeit, wettbewerbsfähig zu bleiben.