Von der Natur lernen heißt Transformation lernen

Dr. Oliver Schwarz ist Generalist und Netzwerker. Er studierte Technische Biologie an der Universität Stuttgart und ließ ein Postgraduiertenstudium in Wirtschaftswissenschaften, MBA sowie Geschichte der Naturwissenschaft und Technik folgen. Auch seine beruflichen Stationen zeugen von einem vielfältigen Interesse. Oliver Schwarz war Volontär am Staatlichen Museum für Naturkunde und danach an der Landesanstalt für Bienenkunde der Universität Hohenheim und als Produktmanager für Telemedizin tätig. Seit 2008 ist er Gruppenleiter für Bionik und Medizintechnik in der Abteilung Biomechatronische Systeme am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart.  

Herr Schwarz, Sie sind Experte für Bionik. Womit beschäftigen Sie sich in Ihrem Feld?

Schwarz: Das Wort Bionik setzt sich aus den Begriffen Biologie und Technik zusammen. Es geht in der Bionik darum, Prinzipien der Natur zu entdecken und zu analysieren mit dem Ziel, sie zu abstrahieren und mit technischen Mitteln auf die menschliche Welt zu übertragen, um einen Nutzen zu schaffen. Neue Impulse für die Bionik kommen aus der sogenannten Biologischen Transformation. Da interessiert mich, welche Prinzipien aus der Natur auch in nicht-technischen Bereichen wie z.B. dem Management, der Organisation und Wirtschaft Anwendung finden können.

Was ist die wichtigste Erkenntnis aus Ihrer Arbeit?

Schwarz: Dass wir die Effekte aus der Natur sogar noch verbessern können. Lebewesen müssen immer Kompromisse eingehen. Einzelne Merkmale dürfen nicht zu extrem ausgeprägt sein, weil sie sonst negative Auswirkungen auf andere Lebensbereiche haben. Ein bildhaftes Beispiel: Der Gecko kann an der Wand laufen, darf aber nicht zu stark haften, weil er sonst nicht schnell genug wegkommt, wenn er fliehen muss. Wenn wir nun nur diesen einen strukturellen Effekt nachbauen, dürfen die Haftkräfte viel größer sein. Wir könnten etwa dazu kommen, im Produktionsprozess eines Autos den Kotflügel nicht mehr schweißen zu müssen, sondern eine Art Gecko-Tape zu verwenden. Das zeigt, wie vielseitig und ressourceneffizient die Bionik sein kann und wie groß ihr Potenzial ist – für die gesamte Wertschöpfungskette vieler Produkte.       

Das hört sich wie die Bestätigung der These an, dass eine zielgerichtete Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft von beidseitigem Interesse ist.Die Forschung kann vom praxisnahen Wissen der Wirtschaft profitieren und wissenschaftliche Erkenntnisse können in der Wirtschaft direkt Anwendung finden. Stimmen Sie zu? Und wie funktioniert die Kooperation am besten?

Schwarz: In der Zusammenarbeit steckt viel innovationspotenzial. Wir können uns in Deutschland glücklich schätzen angesichts unserer effektiven Forschungslandschaft. Wir haben eine ausgeprägte Grundlagenforschung am Max-Planck-Institut und an den Universitäten auf der einen Seite und die angewandte Forschung wie bei Fraunhofer mit mehr als 70 Instituten auf der anderen. Wichtig ist, dass beim Übergang zur Anwendungsforschung frühzeitig relevante Unternehmen der Wertschöpfungskette in die F&E Aktivitäten eingebunden werden. Dann besteht die größte Wahrscheinlichkeit, dass daraus später eine Innovation im Sinne Schumpeters wird. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Forschung am Markt vorbei entwickelt. Leider gibt es viel zu viele Schätze, die von den Forschern von sich aus zu einem niedrigen TRL Level entwickelt wurden und dann da stecken geblieben sind, weil sie nicht das Interesse der Wirtschaft erringen konnten. Andererseits bedeutet das Einsteigen in die frühe Phase von Entwicklungsprojekten bei anwendungsorientierten Forschungsinstitutionen, dass die Unternehmen ein größeres Risiko eingehen und einen längeren Atem brauchen, was über staatliche Forschungsförderung nur zum Teil abgedeckt wird. Ich nehme die Wirtschaft in Deutschland als Risikoscheu wahr, die damit leider auch Chancen verpasst. Ein gutes Beispiel sind die Flachbildschirme, die primär bei uns mit Milliardensubventionenen entwickelt wurden. Keine der großen deutschen Firmen waren bereit eine Serienproduktion aufzubauen, und dann wurden die Flachbildschirme von einer damals völlig unbekannten Firma namens Samsung ohne eigene Forschung auf den Markt gebracht. Die Industrie sollte mehr Mut zeigen und die Forschung sollte von Beginn an Unternehmen als Partner ins Boot holen, um gemeinsam neue Wege zu gehen.   

Verstärkt die Corona-Krise die mangelnde Kooperationsbereitschaft noch, weil die Wirtschaft aktuell mit anderen Problemen beschäftigt ist? 

Schwarz: Zunächst einmal zeigt Corona, dass Forschungseinrichtungen und Unternehmen gut daran tun, nicht nur auf einige wenige lukrative Forschungsthemen zu setzen, sondern auf Vielfalt. Forschungs- oder Geschäftszweige, die zu einem Zeitpunkt als nicht so relevant angesehen werden, können im nächsten plötzlich sehr gefragt sein. Also in Coronazeiten z.B. alles was mit Virusbekämpfung und -prävention zu tun hat. Vielfalt zuzulassen ist auch deshalb wichtig, weil man nichts über Nacht bewirken kann, wenn man zuvor nicht schon langfristig in potenzielle Szenarien investiert hat. Man darf eben nicht nur auf einen schnellen Return of Investment schauen. In meinem Bereich Medizintechnik höre ich gerade von schlimmen Einbrüchen nach Jahrzehnten des beständigen Wachstums. Weil viele Operationen weltweit gerade zurückgestellt werden, brauchen die Krankenhäuser nicht mehr so viel chirurgisches Material. Die betroffenen Firmen werden also nicht sofort „hier!“ schreien, wenn es darum geht, mit etwas Neuem für die Zukunft zu planen. Sie sind nämlich gerade dabei, ihre Wunden zu lecken. Der Staat hat allerdings zuletzt großzügige finanzielle Anreize gesetzt, um aus der Lethargie herauszukommen. Das will ich nutzen, um mit den Firmen vielleicht in einem Jahr, wenn sie wieder ein offeneres Ohr haben, weiterzumachen.

Bionik widmet sich biologischer Transformation, haben Sie vorhin gesagt. Die Themenreise 2021 widmet sich der nachhaltigen Transformation. Welchen Beitrag kann die Bionik dazu leisten?

Schwarz: Die Bionik liefert gemeinsam mit der Bioökonomie und der Biotechnologie eine Antwort auf viele Ziele der Nachhaltigkeit. Zu dritt können die Disziplinen helfen, den CO2-Ausstoß zu reduzieren und die Folgen des Klimawandels abzumildern. Sie gießen das gesammelte Wissen aus der Biologie in eine Form, die der Mensch nutzen kann. Die Biotechnologie steuert etwa Organismen mit besonderen physiologischen Fähigkeiten wie Hefen, Bakterien oder Algen bei. Mit ihnen kann ich komplexe Moleküle auf- und Problemstoffe abbauen – letzteres funktioniert beispielsweise in Kläranlagen. Das Neue ist, dass die Disziplinen vereint auftreten, angewandt auf alle denkbaren Ebenen in wirtschaftlichen Prozessen, um das ganze Potenzial des biologischen Vorbilds zu nutzen. In Zahlen ausgedrückt bedeutet das, dass in bereits optimierten Prozessen noch einmal bis zu 30 Prozent Einsparung möglich sind, einzig dadurch, dass wir die Hardware der Natur kopieren. Und da ist der große Bereich der Software noch gar nicht adressiert. Sprich: Man muss jetzt Erkenntnisse aus den Algorithmen des Evolutionsprozesses, dem Ergebnis der Evolution und den Erfolgsprinzipien der Natur wie Multifunktionalität, Resilienz, der Nutzung von Sonnenenergie oder Wind und einer ganzen weiteren Palette ableiten. Da steckt ein enormes Potenzial dahinter, das bisher nur angekratzt ist.    

Ein spannender Begriff im Kontext Ihrer Bewerbung um Forschungsförderungen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ist der des Insektenbetons. Was können Sie uns darüber verraten?

Schwarz: Die Bauwirtschaft ist eine der Branchen, die am meisten CO2 in die Luft bläst. Wir forschen in Richtung eines nachhaltigen Betons auf Basis von Enzymen. Enzyme sind das kleinste Werkzeug, das die Natur kennt und können als Katalysatoren hochspezifische Bindungen aufbauen. Sie kommen zum Beispiel beim Waschen zum Einsatz. Enzyme lösen Verschmutzungen aus der Wäsche. Sie haben aber noch weit größeres Potenzial. Es gibt verschiedene biogene Rohstoffe wie Holz oder Chitin, die lokal verfügbar sind und sich mithilfe von Enzymen zu größeren, festen Einheiten zusammenfügen lassen. Wir könnten dadurch ein Surrogat für Kunststoffe schaffen. Wir könnten Plastik ersetzen durch ein biogenes Material, das nach seiner Nutzungszeit entweder komplett biologisch abbaubar wäre oder sich pulverisieren ließe, um dann die Rohstoffe für neue Prozesse und Produkte zu verwenden. Der Insektenbeton hat als Vorbild eine ganze Vielfalt an Tieren aus der Insektenwelt, die mit körpereigenen Proteinen bauen. Oder Muscheln – die kleben sich unter Wasser z.B. an Felsen fest, damit sie in der Brandung haften bleiben und nicht weggespült werden. Wenn es gelingt, das zu übertragen, könnten wir eine ganz neue Klasse von nachhaltigen Betonen herstellen.    

Ist das Ihr erster Forschungsansatz für die Baubranche?

Schwarz: Durch meinen Schwerpunkt in der Medizintechnik stand diese Art von Forschung bisher nicht im Fokus. Aber die Vernetzung in diese Richtung ist extrem spannend. Wir haben Kontakte zur Uni Stuttgart, die inzwischen eine der führenden Institutionen weltweit für die Baubionik ist. Ich bin positiv überrascht, wie konsequent dort die Übertragung aus der Natur stattfindet, beispielsweise im Hinblick auf Leichtbeton, der die Porosität organischer Strukturen in Knochen nachempfindet. Da gibt es also Anknüpfungspunkte. 

Also wollen Sie zukünftig in Stuttgart in diesem Bereich weiterforschen?

Schwarz: Wir wollen ein Projekt einreichen und Förderung beantragen. Das Problem ist, dass bei solchen Anträgen immer gefragt wird, was auf diesem Gebiet schon gemacht wurde. Komplett neue Perspektiven sind Jurymitgliedern häufig zu phantastisch, die wollen das abgesichert sehen durch Belege aus früheren Projekten. Es ist also zuweilen schwierig, eine Initialzündung hinzubekommen. Ich hoffe trotzdem, dass es uns gelingt, Sichtbarkeit herzustellen.   

Welche weiteren Punkte stehen derzeit auf Ihrer Agenda ganz oben?

Schwarz: Ich brenne für die Biologische Transformation als solche, weil ich davon ausgehe, dass sie eine industrielle Revolution mit Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft auslösen wird. Auf die Art und Weise wie wir leben, wie wir unsere Städte verändern und wie wir lernen, das aber nachhaltiger als bisher. Wir brauchen Leute, die in der Lage sind, vernetzt zu denken und interdisziplinär mit anderen zusammenarbeiten. Das solitäre Denken, das nur auf ein Ziel hinarbeitet, muss der Vergangenheit angehören, weil es Ursache ist für viele Fehlentwicklungen. Wir brauchen eine neue Generation von Generalisten, die auf Basis von nachhaltig vermitteltem ausgewähltem Wissen die unterschiedlichen Bereiche wie Technik, Informationstechnik und die biologischen Disziplinen Bionik, Biotechnologie und Bioökonomie zusammenbringt und in praktische Projektarbeit transferiert. Wer in den Grenzbereichen der Disziplinen interagiert, wird die Gesellschaft verändern. Ein gutes Beispiel dafür ist der 3D-Druck von Enzymen. Das geschieht an der Grenze zwischen Biotechnologie und Bionik.    

Herr Schwarz, wir kommen zum Abschluss. Und schenken Ihnen einen freien Wunsch. Wie lautet er?

Schwarz: Kooperation statt Konkurrenz ist eines der Erfolgsprinzipien in der Natur. Daran sollten wir uns orientieren. Wir haben vorhin über das Zusammenspiel von Wirtschaft und Forschung gesprochen und wie sich eine größere Wirkung entfalten ließe. Eins plus eins gibt mehr als zwei, wenn wir kooperieren. Ich habe wahrgenommen, dass Drees & Sommer einiges in Richtung Nachhaltigkeit tut. Lassen Sie uns mit gutem Beispiel vorangehen und ausloten, wo wir einander unterstützen können, um eine Partnerschaft für eine nachhaltige biologische Transformation aufzubauen.